Am Tag darauf wurde ich zum Ärztlichen Direktor des Krankenhauses bestellt. In seinem Zimmer warteten der Gewerkschaftsvorsitzende, der FDJ-Sekretär und der Parteisekretär des Krankenhauses auf mich. Welche Stimmen denn da aufwachen sollten, war die Begrüßungsfrage. Ob ich nicht wisse, daß der Gegner gerade heutzutage in den Kirchenbänken säße? Als ich eine erste Erklärung versuchte, daß ich auf einen Gegner so früh am Morgen nicht gekommen sei, außerdem sei der Choral vor mehr als zwei Jahrhunderten geschrieben worden und also kein Kampflied, unterbrach mich der Parteisekretär: Es wäre ein Skandal, daß ich zum Gottesdienst in der Kirche spielte. Ich sei hier Gewerkschaftsfunktionär, das hätte ich anscheinend bislang nicht begriffen. Ob ich politisch nicht bei Verstand sei? Das war ich in der Tat nicht und verstand daher den Grund der ganzen Aufregung nicht. Auf meine Frage, wo ich denn sonst Orgel spielen sollte, schließlich stünden Orgeln nun mal in Kirchen und nicht in Gewerkschaftshäusern, bekam der Krankenhausdirektor einen Tobsuchtanfall. Er sprach von einer politischen Provokation ohne gleichen. Als ich versuchte zu erklären, daß sich Bach, soweit ich wisse, für Politik einen Dreck interessiert hätte, verwies er mich des Zimmers. Ich flog aus der eben erworbenen Stellung.
Zunächst einmal hatte ich wieder keine Arbeit, dafür aber ein Mitgliedsbuch des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes. Alex tröstete mich damit, daß solch eine Mitgliedschaft ruhen könne, ich aber bei einer von ihm beantragten FDGB-Reise trotzdem den gewerkschaftlichen Rabatt bekäme. Den Segelklub könnte ich bei ruhender Mitgliedschaft auch nutzen. Das waren die sachlichen Kommentare eines Elektroingenieurs, die ich an Alex so sehr mochte.
Die Lust auf ein Angestelltenverhältnis war mir wieder einmal vergangen. Ich zog mich zurück und jobbte im Glühlampenwerk. Wenn keine besonderen finanziellen Ausgaben wie Urlaub oder Wintermantel anstanden, reichten zwei Nachtschichten in der Woche. Das Leben in der DDR war billig, wenn man von allen bürgerlichen Differenzierungen des Geschmacks absah. Und die bürgerlichen Standards, die an Essen, Trinken, Wohnen und an Kleidung und geknüpft waren, hatte ich ohnehin längst als Krimskrams verworfen. Essen hatte ich zur Nahrungsaufnahme degradiert, wobei ich mich an die sogenannten Grundnahrungsmittel hielt, wie sie von den DDR-Behörden so treffend benannt wurden. Diese Grundnahrungsmittel gab es beinahe gratis, das Wohnen auch. Die Mieten hatten eher einen Symbolwert. Eine Neubauwohnung mit Bad, Warmwasser und Zentralheizung war von Familien mit Kindern sehr begehrt. Daß diese Wohnungen im Lego-Baukasten-System des Plattenbaus gebaut waren, wurde seiner Eintönigkeit wegen, wenn überhaupt, nur von Intellektuellen bemäkelt.
Dieses Erlebnis, daß Essen, Trinken und Wohnen nahezu gratis sein können, wenn man von allem anderen absieht, gehört zu meinen wichtigsten Erlebnissen in der DDR. Im einfachen Wortsinn konnte in der DDR niemand verhungern, nicht einmal aus Protest. Man konnte schlecht essen und wohnen, aber wenn jemand auf der Parkbank schlafen wollte oder gar auf irgend einem Bahnhof, wurde er von der Polizei aufgegriffen und kam unter das polizeiliche Obdach.
Doch daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt, war nicht erst seit Brecht bekannt. Einen Teil dessen, was der Mensch außer einem Obdach noch brauchen könnte, schwirrte an den DDR-Bürgern allabendlich auf der Mattscheibe in der Reklamezeit des Westfernsehens vorbei. Zunächst in schwarz-weiß, später in Farbe. Ich erzog mich in dieser Zeit zur Bedürfnislosigkeit gegenüber den alltäglichen Dingen. Dafür konsumierte ich, wie viele Intellektuelle im “Leseland DDR”, Bücher.
Ich wog mein spartanisches Leben auf mit dem Konsum philosophischer Literatur. Gierig verschlang ich ein Buch nach dem anderen: Heidegger, Nietzsche und Sartre. Alex’ Schwester hatte gerade diese Philosophie vor dem Mauerbau kontinuierlich gekauft. Zunächst aber las ich wie gebannt Heideggers “Holzwege” und war begeistert von jedem neuen Satz, den ich mir eroberte. Ich verstand nicht viel von dem, was ich las. Aber ich war getroffen von dem Rhythmus der Heideggerschen Sprache. Und mit jedem Satz traf er mich erneut, versetzte mir einen Schlag und schürte die Angst. Ja, die Panik war es, die sich angestaut hatte, und die Verzweiflung, die keinen anderen Weg aus mir fand als den der Selbstzerstörung. Für eben diese Existenzpanik gab es bei Heidegger bereits einen sprachlichen Ausdruck. Meine verrückte Angst hatte also einen Ort auch außerhalb von mir. Sie war kommunizierbar. Insofern beruhigten mich Heideggers Sätze auch, selbst wenn sie mich immer tiefer in die Verzweiflung trieben. Auszudrücken, was geschehen war und die eigene Leere durch Sprache zu überbrücken war die Absicht, die ich so erst wieder auszudrücken vermochte, als ich Sprache schon wieder gefunden hatte.
Alex mochte meine Nachdenklichkeit, zu der er keinen Zugang hatte. Sie brachten mich in die Nähe seiner älteren Schwester, die er über alles liebte. Alex fühlte sich auf eine unheimliche Weise von metaphysischen Fragen angezogen, hatte aber, bis er mich kennenlernte, eine Distanz zu ihnen halten können, auch weil seine Schwester gegenüber dem jüngeren Bruder Distanz wahrte, wozu ich in gar keiner Weise fähig war.
Neben Heidegger las ich Hölderlins “Hyperion”. Ich las ihn täglich, wie eine Bibel. Die Trauer um unwiederbringlich Verlorenes, die aus jeder Seite seines Romans sprach, brachte mir die Gewißheit, daß ich mit einem Verlust nicht allein war. Eher zufällig griff ich in dieser Zeit auch zu einer Taschenbuchausgabe von Hegels “Phänomenologie des Geistes”, die ich bei Alex’ Schwester fand. Es war das erste Buch, das ich von Hegel las. Der Rhythmus, in dem Hegel schrieb, war mir vertraut, die Satzmelodie bekannt. Sie erinnerte mich an Bach, genauer an die Struktur der Bachschen Fuge, an die Schrittfolge der Verknüpfung von Ton und Ton und daran, daß die Auslassung eines einzigen Schritts die ganze Komposition zum Einsturz zu bringen vermochte. Ja, an die “Kunst der Fuge” wurde ich beim Lesen der Hegelschen Sätze erinnert. Endlich widerschien da etwas aus meiner zerbrochenen musikalischen Existenz, das mir vertraut war, ein Rhythmus, ein Klang, an denen ich festhalten wollte, unbedingt. Ich war übervoll von Erlebtem und konnte die Erfahrung des Lebensbruchs dazugeben, mußte sie dazugeben, denn irgendwie mußte ich, um weiterzuleben, mit dem fertigwerden, was ich erlebt hatte. Läßt sich der Bruch berechnen, entsteht die Chance, nie wieder durch alle Raster ins Bodenlose zu fallen. Wenn es Regeln für Kontinuität gab, gab es auch Regeln, die ihren Abbruch berechenbar machten.
Ich hatte also endlich eine Frequenz gefunden, in der Kommunikation versucht werden konnte, Verständigung, die meine Sprachlosigkeit vielleicht aufzuheben vermochte. Weit ab von der wirklichen Welt, in der ich umherlief, hörte ich eine Wellenlänge, die für mich kommunizierbar schien. Den Heideggerschen Satzrhythmus setzte ich gegen den Hegels. Daß bei Hegel der Bruch nicht Abbruch war wie bei Heidegger, ließ mich immer wieder aufhorchen. Das war eine Art Trance, in die mich diese Sätze versetzen konnten. Entrückt vom Alltag, ging ich in meine Nachtschichten zum Glühlampenwerk und packte die Glühbirnen in ihre blauen Pappschachteln und war mit Sein und Nichts beschäftigt.
Ich hatte ein mir verträgliches Maß zwischen Bandarbeit und Existenzphilosophie gefunden und war einigermaßen im Lot mit mir, da trat Alex’ Schwester auf mich zu. Sie meinte, ich hätte nun wohl genügend Kraft geschöpft, um es doch noch darauf ankommen zu lassen, einen ordentlichen Beruf zu erlernen. Sie habe sich in der Medizinischen Fachschule des Krankenhauses erkundigt, in dem sie als Medizinische Assistentin arbeitete. In jenem Jahr waren noch Studienplätze für den Beruf als Diätassistentin frei. Ich sollte mich doch bewerben. Da Alex ihre Meinung teilte, schaute ich mir an, um was es ging. In einer Lehrküche der medizinischen Schule wurde mir der Beruf praktisch vorgeführt: In unzählig kleinen Töpfen wurde Essen für Leberkranke, Gallendiäten, Brei für Magenkranke und Schonkost für Nierenpatienten angerührt. Schülerinnen mit weißen Haarnetzen versuchten ihre Suppen.
Читать дальше