Rita Kuczynski - Die gefundene Frau

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Ab heute werde ich also Agnes heißen. Ich werde keine Verwandten haben." Sie hat nichts behalten, nicht mal ihren Namen, nicht die Ausweispapiere, den Beruf, eine Wohnung. Sie steht in der Mitte ihres Lebens, und sie ist frei. Der Grabstein ihrer Großmutter, ein echter Vargas, wurde beim Konkursverfahren übersehen. Sie wird ihn verkaufen. Er wird die Grundlage ihres neuen Lebens. Als die Ost-Berlinerin Agnes den Jogger Moses trifft, den Straßenmusikanten und Wegesucher, wächst zwischen den beiden vorsichtig eine Liebe heran …
In >>Die gefundene Frau<< beschreibt Rita Kuczynski mit poetischer Kraft und großer Leichtigkeit, wie das Abstreifen der Vergangenheit zur Chance wird. Ein eindringlicher Roman über die Heimatlosigkeit in einer Metropole.

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Rita Kuczynski

Die gefundene Frau

epubli 2016

In Erinnerung an Leon

Dank an Bernd Floßmann

Die Autorin

Rita Kuczynski, 1944 in Neidenburg/Ostpreußen geboren. Studierte Musik und Philosophie. 1976 Promotion an der Akademie der Wissenschaften der DDR über Hegel. Zahlreiche Gastvorlesungen u. a. in New York und Washington D.C., Lehraufträge im In- und Ausland. Freie Tätigkeiten als Journalistin und Publizistin u. a. für FAZ, Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, Tagesspiegel und verschiedene Rundfunkanstalten

2002 Literaturpreis der China-Time Taiwan, 2002; Fellow an der Johns Hopkins University (2001; 2008)

Autorin zahlreicher Sachbücher und Romane.

U.a. „Mauerblume“,(1999); „Was glaubst du eigentlich?“ (2013)

Rita Kuczynski lebt in Berlin.

Impressum

Copyright: © 2016 Rita Kuczynski www.rita-kuczynski.de

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Schriftsatz, Fotos und Buchcover:

Bernd Floßmann, www.bookcoach.info

ISBN 978-3-7418-2123-3 (Paperback)

ISBN 978-3-7418-2124-0 (E-Book)

1

Ich liege auf dem Rücken und kann von meinem Futon geradewegs auf die Straße sehen. Ich liege also nicht auf der Straße. Die Straße liegt vor mir.

Der Futon ist eine Spende von Humana und besser, als ich dachte. Hinter der Fensterscheibe in Augenhöhe nehmen Beine mit Schuhen ihren Weg. Auch Beutel und Taschen werden am Fenster vorbeigetragen von Leuten, die ich nicht sehe und die mich nicht sehen. Ich liege zu ebener Erde und konzentriere mich auf meinen Körper. Mit aller Kraft presse ich ihn gegen die Unterlage. Ein Gefühl für die hier geltenden Druckverhältnisse soll sich einstellen. Ich verschiebe den Gedanken, schon wieder auf der Suche nach einem Punkt zu sein, auf den ich zurückkommen könnte, wenn ich meine Rückenlage aufgäbe. Wenn ich aufstünde.

Alle Neuen im Wohnheim landen zunächst im Parterre, sagte jemand vom Flur herkommend und betrat unaufgefordert das Zimmer. Vor meinem Futon kam ein hochgewachsener Mann zum Stehen. Er trug einen Jogginganzug.

Du kommst darüber hinweg, glaub mir. Darüber sind alle hinweggekommen. Und wenn nicht, sind sie wieder ausgezogen.

Er streckte mir seine Hand entgegen. Ungern gab ich meine Rückenlage auf.

Ich bin Moses, Moses Grossman. Ich bin auch einmal ausgesetzt geworden und hatte alles verloren. Erst nachdem ich aus dem Wasser gezogen wurde, habe ich eine Welt gewonnen. Kannst mir glauben, ohne den Verlust wäre ich nicht geworden, was ich bin: Läufer zwischen hier und drüben. Oder wenn du willst, Mittler zwischen Erde und Himmel. Das bleibt eine Frage der Sicht. Damit ich nicht abkomme vom Weg, höre ich auf meine Stimme, wenn sie zu mir spricht.

Ich heiße Agnes, sagte ich abwesend und sah aus dem Fenster.

Wie ich auf diesen Namen gekommen bin, verstand ich nicht. Aber er gefiel mir. Ich nahm meine Rückenlage wieder ein.

Ich weiß, Agnes, sagte Moses und verließ das Zimmer.

Ehe ich etwas erwidern konnte, waren nur noch seine blauweißen Turnschuhe zu sehen. Ihr Schritt verhallte auf dem Flur.

Ich setzte mich auf. Ab heute werde ich also Agnes heißen. Für einen Augenblick wurde mir ganz feierlich zumute. Denn noch nie hatte ich einer Schöpfung beigewohnt und dazu noch meiner eigenen. Ein Kälteschauer durchfuhr mich. Ich legte mir eine Decke über. Ich hatte ja nur dieses dünne Nachthemd aus Leinen an. Alle Neuen bekommen so ein Hemd bei der Einweisung ins soziale Wohnheim. Gestern abend war ich zu müde, in meinen Kisten nach einem eigenen Nachthemd zu suchen.

Auf der Straße vor meinem Fenster wurden noch immer Tragetaschen und Reklametüten aus Papier und Plastik vorbeigetragen. Ich gab mich in den Rhythmus der Straße. Ich begann die Winterstiefel zu zählen, die vor den Fensterscheiben vorbeiliefen. Das Fenster war nicht dicht. Es zog.

Ab heute also werde ich mich in aller Welt Agnes nennen. Ich werde keine Verwandten haben, auf die ich mich beziehen kann, weil sie in einer anderen Zeit längst verstorben waren. Den Grabstein samt Grabstelle, den meine Großmutter mir einst schenkte, werde ich verkaufen. Er ist beim Konkursverfahren übersehen worden. Wenn sie von dem Verkauf erführe, würde meine Großmutter mein Vorgehen ertragen. Schließlich hatte sie immer ein Einsehen mit mir.

Auf der Straße vor meinem Fenster nahmen Schritte ihren Lauf. Es war Januar. Geschneit hatte es auch. Aber Abdrücke von Schuhen im Schnee gab es nicht. Die Straßenreinigung hatte mit reichlich Sand die Gehwege gestreut. Sand als umweltfreundliche Alternative gegenüber Chemikalien hatte sich durchgesetzt. Fußabdruck in frischem Schnee entfiel daher. Im Schneesand zerfällt jeder Schritt, bevor er Abdruck werden kann. Ich stierte auf die am Fenster vorbeilaufenden Winterschuhe. Streusand auf asphaltieren Straßen in großen Mengen hinterließ den Eindruck von Unwegsamkeit. Ein Hund blieb vor dem Fenster stehen und beschnuppert die Ecken. Er beroch den Sand, der bis dicht vor die Scheibe gestreut worden war. Dann hob er das Bein und pinkelte in die rechte Fensterecke.

Na los Agnes, rief ich mich zum ersten Mal bei meinem Namen, gehen wir die Grabstelle verkaufen. Mir war kalt. Hunger hatte ich auch.

Auf der Straße war es glatt. Feuchte Kälte trieb mir Wasser in die Augen. Es war nicht Rührung, sondern Kälte der Grund, daß mir Tränen über das Gesicht liefen. An einer Kreuzung blieb ich stehen. Gelbe Wegweiser mit Zielvorschlägen für jede Himmelsrichtung. Ich entschied mich für Norden. Im Norden war als lohnenswert eine Unfallklinik angegeben. Wo ein Krankenhaus ist, ist auch ein Bestattungsinstitut, sagte mir meine Erfahrung.

Es waren gleich drei um die Klinik angesiedelt. Ich wählte das Geschäft direkt neben dem Gemüseladen. Ich öffnete die Tür, nur zwei Schritte, und ich stand etwas unvermittelt in einem Mittelgang zwischen zwei Särgen. Auf dem rechten lag ein großer Strauß. Ich roch an ihm. Die Blumen waren echt. Es dauerte, bis eine junge Frau kauend von der Kellertreppe her in den Laden hochkam. Mit den Händen wischte sie sich den Mund, bevor sie die Finger am Rock abstrich. Die Frau hatte ein T-Shirt an, auf dessen Rücken die Öffnungszeiten standen: Seit 1872 Tag und Nacht: Erd- und Feuerbestattungs - Gesellschaft mbH.

Ich trug mein Anliegen vor. Sie gab mir zu verstehen, daß ich mein Grab wahrscheinlich gar nicht mehr besäße. Jedes Nutzungsrecht für Grabstellen laufe nach zwanzig Jahren aus. Darüber gäbe es Gesetze. Ob ich je einen Verlängerungsantrag gestellt hätte. Ob ich wisse, wer die Unkosten für die Grabstelle beglichen haben könnte über die Jahre. Ich müsse mich mit meiner Friedhofsverwaltung in Verbindung setzen.

Ob ich überhaupt noch Rechte an der Grabstelle hätte, sei eher unwahrscheinlich. Das Land gehöre in meinem konkreten Fall der Kirche. Auch Ansprüche am Gottesacker verjähren. Wenn ich einen Nutzungsvertrag mit dem Friedhof vorweisen könne, hätte ich vielleicht eine Chance. In jenem Fall könne ich eventuell eine Abtrittserklärung für zehn Jahre erwirken, vorausgesetzt, daß kein Sterbefall einträte. Das Ganze bedürfe selbstverständlich der Schriftform. Ein Nutzungsvertrag unter zehn Jahre rentiere sich jedoch keinesfalls. Ob der Friedhof da mitmache, hielte sie eher für unwahrscheinlich. Ich sollte mal besser nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen.

Ich bedankte mich für die Auskunft und schlug den Weg zum Friedhof ein. Bevor ich bei der Kirchhofsverwaltung vorsprach, ging ich zum Grab meiner Großmutter. Ich brach einen Zweig aus der Buchsbaumhecke und sagte meiner Großmutter: Auf Wiedersehen. Auf Wiedersehen, sagte ich damit einem Fixpunkt, aus der Zeit, in der es noch feste Orte gab, auf die zurückgekommen werden konnte, selbst nach allem Ende.

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