Die Stadt der schönen Künste am sechsten Tag im August.
Mitten in der hügeligen Landschaft, in einem mit alten Pinien und dunklen, säulengleichen Zypressen sowie knorrigen Olivenbäumen üppig bewachsenen Garten, umwoben von mediterranen Düften aus Rosmarin, Myrte und Zitronenmelisse, lag die Stadt voller Lebenslust in der gleißenden Glut der Mittagssonne. Schon seit dem Morgen lauerte der Mann dem Objekt seiner Begierde auf. Tagelang schlich er bereits durch die malerischen, mit handbehauenen Sandsteinplatten gepflasterten engen Gassen, vorbei an mittelalterlichen Gebäuden mit bogenförmigen Hauseingängen und deren für Fremde verwirrenden blauen, schwarzen und roten Hausnummern. Er trieb sich auf den großen Plätzen und in zahllosen Trattorien herum, immer auf der Suche nach der perfekten Beute. Sein Jagdinstinkt lief auf vollen Touren. Er zog von einem Café in das nächste. Sein geschulter Blick galt nicht den gut gekleideten jungen Männern, die mit verspiegelten Sonnenbrillen müßig an schattigen Kaffeehaustischen saßen und ihren geliebten Espresso tranken. Auch nicht der Heerzahl von anstürmenden Touristen, die die Stadt wie Heuschrecken überfluteten. Nein, seine gierigen Blicke galten nur den lebensfrohen, verführerischen und völlig wildfremden Frauen, denn die heitere Lebensart in den Straßen der Stadt und der wolkenlose Himmel boten eine üppige Auswahl an weiblicher Anmut und Grazie.
Immer wieder entdeckte er neue, aufregend junge Schönheiten, die mit schwärmerischen Augen die Modeauslagen der bunten, pittoresken Boutiquen erkundeten oder frivol kichernd an nackten Statuen posierten – dabei unverhohlen die Vollkommenheit männlicher Blößen im Auge haltend. Und nicht zu vergessen: entzückende Wesen aus allen Ländern der Erde, die in aufreizend sommerlicher, teils hauchfeiner Bekleidung und mit im Wind wehenden offenen Haaren auf den Rücksitzen von knatternden und qualmenden Motorrollern dahinrauschten. Hier und da ein paar flirtende Blicke werfend zu adonishaften, aber immer noch halbwüchsigen Kerlen, die aufreizend lässig an einer marmornen Hauswand oder einem eisernen Brückengeländer lehnten. Aber keine der Frauen entsprach dem vollkommenen Ideal des Jägers. Er brauchte das Neue, das Geheimnisvolle.
Der Mann entdeckte seine Beute an der südlichen Flussseite, auf einer jener breiten steinernen Bänke, des aus grob behauenen Steinquadern erbauten Palazzos. Die Luft vibrierte trocken-heiß, erbarmungslos stach die Sonne vom tiefblauen Himmel. Nur einzelne, filigrane Eiswolken durchzogen fadenförmig die Atmosphäre. Das Licht zeichnete scharfe Konturen: Hier spendeten die Mauern der hohen Häuser und die vorspringenden Dächer dunklen, kühlen Schatten. Dort, an ungeschützten Plätzen, blendete das grelle Licht. Die Frau fesselte seine Sinne vom ersten Augenblick. Er konnte sich nicht sattsehen, fasziniert von einer vollendeten, sonnengeküssten Natürlichkeit: Schulterlange, tiefschwarze Haare, leicht gelockt wie Sommerwolken, umschmeichelten das engelhafte, dunkelhäutige Gesicht und wogten bei jeder Bewegung des Kopfs behutsam dahin, wie sanfte Meereswellen in einer wohlig warmen Brise. Sie trug keine Schminke. Ihr makelloser, weicher Teint, die sinnlichen, glutvollen Lippen und die großen dunkelbraunen Augen strahlten eine betörende Anmut aus, die jede Einmischung verbot. Unter Tausenden hätte der Jäger sie wiedererkannt.
Die Schönheit las in einem Buch. Wunderschöne Beine, deren ebenmäßige Haut schwarzbitter-schokoladig in der Sonne strahlte, entspannten sich lässig übereinandergeschlagen. Am nackten rechten Zeh wippte kokett eine edle Plateausandalette aus weißem Glattleder mit funkelnden Ziersteinen auf den gewundenen Riemchen; ein aufreizendes Bild voll von jugendlichem Glamour und ausdrucksstarker, femininer Eleganz. Aber immer wieder störten die vorbeiströmenden Touristenmassen die begehrlichen Blicke des Mannes. Die Fremden , grübelte er, widmen ihre ganze Aufmerksamkeit den Ansammlungen von toten, kalten Steinen und überlebensgroßen Statuen . Und davon gab es wahrlich genug in dieser Stadt. »Schon verrückt«, entfuhr es ihm leise, während er leicht den Kopf schüttelte, ohne dass seine kurzen blonden Haare die Fassung verloren. »Da sitzt Gottes lieblichstes Geschöpf auf Jahrhunderte alten Marmorsteinen, eine Erdgöttin aus dem Herzen der Natur, fleischgewordenes Zeugnis einer unglaublichen Lebendigkeit – und alle huldigen dem Vergänglichen, dem Tod.« Doch er irrte sich. Denn er war nicht der Einzige, der die bildhübsche Frau beobachtete. Vier dunkle Augenpaare verfolgten im Verborgenen die weibliche Fährte.
»Ciao Bella.«
Abrupt wurde der Jäger aus seinen Gedanken gerissen, als sich ein irdisches männliches Wesen lauthals der auserkorenen Göttin näherte – offenbar kein Tourist, wohl eher ein Studiosus, trug dieser doch eine Menge Bücher unter den Armen. Die Frau schenkte dem Jüngling ein bezauberndes Lächeln, erhob sich und begrüßte ihn freundschaftlich mit dem Hauch von zwei zart angedeuteten Wangenküssen. Eine Weile schwatzten sie fröhlich kichernd miteinander, dann legte sie ihren Arm ungezwungen um seine schlanke Taille. Langsam schlenderten die beiden, immer noch anregend miteinander diskutierend, die Straße entlang bis zu der alten, auf drei Bögen ruhenden Brücke. Hier trennten sich ihre Wege wieder.
Die Philosophin überquerte rasch den Fluss, um dann in Richtung Biblioteca Nazionale abzubiegen. Dort wollte sie Näheres zu dem geheimnisvollen Fund aus der Villa erforschen. Eine kribblige Neugierde erfasste sie.
Der Jäger folgte seinem Wild. Erst jetzt fiel ihm auf, wie unverschämt lang die Beine seiner Göttin von der Erde bis zum Himmel ragten. Die hohen Absätze der Schuhe strafften elegant den gesamten Körper, ausdrucksstark in Szene gesetzt durch einen feminin schwingenden, gazellengleichen Gang. Alles war perfekt aufeinander abgestimmt: Zu einer leicht geöffneten, verspielten weißen Rüschenbluse, bewusst weiblich eng anliegend gewählt, trug die Frau einen dunkelroten, knielangen und röhrenförmigen Seidenrock, dessen Schlitze an der Seite die schlanken Beine ins nahezu Unendliche emporwachsen ließen. Hinter der Brücke, auf der anderen Seite des Flusses, schlich der Mann dem Kätzchen nach wie ein läufiger Kater. Sein Instinkt drängte ihn – und nicht das erste Mal.
Die Frau hatte ihn längst bemerkt. Sie wusste, was er beabsichtigte, denn sie kannte Typen wie ihn. Sie spielte mit ihm. Aber noch gab sie ihm keine Gelegenheit, bestanden hingehauchte Posen nur aus kurzen, unverfänglichen Andeutungen. Sie wollte ihn zappeln lassen. Die Katze spielte mit der Maus, auch wenn die Maus dachte, die Katze zu sein.
Sie liebte die Stadt. Vor nunmehr achtundzwanzig Jahren auf dem schwarzen Kontinent geboren, gaben ihr Land und Leute eine innig gefühlte Heimat. Sie war stolz, eine dunkelhäutige Frau zu sein, Gottes Geschöpf aus der Wiege der Menschheit, eine schwarze Sonnenwolke, glücklich, dankbar und sich doch nach der Wurzel ihres Seins sehnend: dem verwaisten Kinderbett in dem Land, dessen unwirtlichen und kriegerischen Lebensraum sie so früh verlassen musste. Jahrelange Dürre, brachliegende Äcker, verminte Straßen und die hinterhältigen Schüsse feiger Heckenschützen hatten Land und Menschen ausgemergelt bis auf die Knochen. Lebenstötend und Ströme von Flüchtlingen ergießend. Eines Tages würde sie in das Land der Väter zurückkehren.
Doch jetzt begehrte sie nur das Hier, ihre Stadt: das bunte Treiben der Händler, die emsigen Handwerker, alle stets darum bemüht, die mehr als zweitausendjährige Vergangenheit des kulturellen Juwels in seiner atemberaubenden Pracht und seinem künstlerischen Ebenmaß zu erhalten. Auch die vielen Touristen, die in aufgeregtem Gedränge und Gewimmel nach Souvenirs und Ansichtskarten schauten und deren gerötete Gesichter vielfach gezeichnet waren von der sengenden Sonne und den Anstrengungen der kolossalen Museen, schreckten sie keineswegs. Gehörten die reisenden Urlauber doch hierher, wie die Luft zum Atmen. Denn ohne die Fremden, das wusste sie, gäbe es nicht das bunte Treiben auf den Märkten. Auch nicht die vielen kleinen Läden in den romantischen Gassen und nicht die Meister der Gilden, die sich gekonnt in alten Traditionen übten: Seidenweber, Schuster und Strohflechter; oder Goldschmiede mit winklig kleinen, wie Balkone vorragenden Geschäften entlang der Prachtstraße über die alte Brücke, die an der schmalsten Stelle über den in Hitzemonaten nahezu ausgetrockneten Fluss führte und in der Mitte dem ehemals größten Virtuosen der güldenen Zunft huldigte. Und damals wie heute blendeten herrliche Auslagen die Sinne: kunstvoll gestaltete Broschen, geschmeidige Ketten und Ringe aus Gold, Machtsymbole einst wie jetzt, von Meisterhand erschaffen.
Читать дальше