Es durfte also nicht bei einem unverbindlichen Gespräch auf der Terrasse des Zorbas bleiben. Wenn sie an diesen Prager etwas näher herankommen wollte, musste sie ihm schon etwas bieten. Bewunderung und weibliche Anziehung waren eine Währung, die man auf die Waagschale legen konnte. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ein strahlender Blick genügte, um einen Mann für sich zu gewinnen. Bisher hatte sich jeder Mann geschmeichelt gefühlt, wenn sie sich für ihn interessierte und durch ein engagiertes Verhalten ihr Interesse für seine Belange zeigte. Und sollte Prager keine Sensoren für weibliche Reize haben, dann reichte vielleicht sein wissenschaftliches Interesse.
Er hatte an diesem Abend mehr getrunken als sonst. Schuld daran war diese junge Frau. Bis zu seinem Haus am Hang waren es mehr als nur ein paar Meter. Er blieb immer wieder stehen, drehte sich um und schaute zum Dorf zurück. In den meisten Häusern war noch Licht zu sehen. Dunkel ahnte man das Meer hinter den Häusern liegen. Ich sollte meine Biografie schreiben, dachte er! Aber welche, ich kann mich nicht entscheiden, das ist zum Lachen. Na, sagte er zu sich selbst, wie wäre es denn mit folgender Kurzversion:
Ich beginne mit einem Besuch beim alten Prager in Lentas. Ich schaue auf mein Leben zurück und habe wüste Träume. Die Geister der Toten besuchen mich fast jede Nacht und meine Frau Gerlinde hat jegliches Interesse an mir verloren, ich komme ihr immer merkwürdiger vor. Sie lebt in Berlin und führt dort meine Galerie. Ich führe jetzt auf Kreta das Leben eines Einsiedlers. Unser schönes Haus bei Sitia habe ich verkauft. Ich bin in ein Dorf in den Asteroussia-Bergen gezogen. Das klingt für eine Biografie dramatischer als Lentas, das mittlerweile jeder kennt. Ich gelte hier als der Schriftsteller, der die Einsamkeit sucht, aber die Wahrheit ist: ich bringe keine einzige Zeile zu Papier. In meinen Tagträumen ziehen die Bilder meines Lebens an mir vorbei. Ich spreche oft laut mit mir selber und höre mir zwischendurch, nur um einmal eine andere Stimme zu hören, die Geschichten eines griechischen Bauern an. Aber ich weiß nicht, was er sagt, zwei Welten, die nebeneinander stehen, ohne voneinander das Geringste zu verstehen. Eines Tages kommt eine junge Frau, eine Aussteigerin auf Zeit ins einsame Dorf. Sie erzählt mir abstruse Geschichten aus ihrem und meinem Leben. Die junge Frau schreibt sich alles auf und macht aus den Versatzstücken meiner Erzählungen eine völlig neue Geschichte. Sie erfindet mich gewissermaßen neu. Was sie über mich aufgeschrieben hat, lässt sie mir als Kopie zurück und ich beginne ein letztes Mal meine Identität zu wechseln.
Prager, dem der Alkohol eine bei ihm selten anzutreffende Sentimentalität beschert hatte, wollte noch nicht zu Bett gehen. Er dachte an die junge Frau, an die Studentin der Archäologie, die eigentlich gar nicht wie eine Studentin wirkte und er dachte daran, wie schnell doch die Zeit verging. Hatte er sich lächerlich gemacht? Das Zusammensein mit dieser Frau hatte ihn für einen Augenblick sein Alter vergessen lassen. Er musste sich zur Ordnung rufen. Mach’ dich nicht zum Narren! Sie will was von dir wissen und du hast für die nächsten Tage eine angenehme Gesprächspartnerin gewonnen, mehr ist es nicht. Er nahm sich sein graues Notizbuch und brachte die folgenden Sätze zu Papier:
In meiner Geschichte hat sich ein alter Mann auf Kreta ein Haus gekauft. Er lebt dort allein, hat aber eine Frau im fernen Deutschland, die in den Sommermonaten für einige Wochen zu ihm kommt. Der Mann hat kaum Kontakt zu den Einheimischen, er spricht nicht deren Sprache und sucht auch von sich aus keinen Kontakt zu den Menschen. Man nennt ihn im Dorf den Professor. Die Putzfrau erzählt den Bewohnern des Dorfes, dass er viele Bücher habe. Wenn er ins Café kommt, hat er immer eine Lektüre dabei, oft kann man beobachten, dass er sich Notizen macht. Er spricht manchmal mit dem Aufseher des Heiligtums. Der Professor interessiert sich vor allem für die alten Steine. Er habe, so sagt man, im nahen Gortyn schon Führungen für Touristen gemacht, er scheint sich also bei den alten Steinen gut auszukennen. Man schätzt sein Alter auf knapp über sechzig. Im Vergleich zu einem gleichaltrigen Einheimischen aber schaut der Professor noch sehr gut aus, sportliche Figur und immer gut gekleidet, eine Art Strandanzug hat man bei ihm noch nie gesehen. Gestern saß er mit einer jungen Frau im Café. Eine Deutsche, sie könnte seine Tochter sein. Er wirkte wie verwandelt. In seinem Gesicht, in seinem Lächeln, in seinen Augen sah man die Jugend aufblitzen. Es schien fast, als sei aus dem alten Herrn plötzlich ein pubertierender Jüngling geworden. Er lachte viel, aber der jungen Frau gegenüber zeigte er Achtung und Anteilnahme. Er ließ sie sprechen, hörte ihr aufmerksam zu und nickte zuweilen zustimmend mit dem Kopf. Wenn er sprach, schaute sie auf ihn, wie auf einen Vater. Sie zeigte sich sehr fürsorglich. Sie füllte ihm den Teller und achtete darauf, dass sein Glas immer voll war.
Von ihrem Balkon aus konnte sie zwischen den Häusern einen dunklen Streifen des Meeres sehen. Aus der Kneipe am Strand war noch Musik zu hören, das ewige Einerlei griechischer Folklore, aber zum Essen passte es doch ganz gut. Dolmádes, Saganaki, Tsatsiki, Gyros, Moussaka, Souvlaki und die vielen anderen schmackhaften Gerichte, das war ohne Giorgios Papadopoulos nicht denkbar. Sie hätte vielleicht nach einem besseren Zimmer schauen können, aber der Luxus lohnte sich nicht. Sie war ja doch den ganzen Tag über unterwegs: entweder am Strand oder hoch oben in den Bergen. In diesem Teil Kretas hatten die Dörfer noch etwas von ihrem ursprünglichen Charakter bewahrt. Allerdings wäre ein geländegängiges Fahrzeug von Vorteil gewesen. Die Straßen waren gerade in den abgelegenen Bergregionen in keinem guten Zustand. Man hatte ihr abgeraten, beim Mietwagen auf eine billige Police zu setzen, da Schäden an Reifen, Achse und Chassis bei den Sonderangeboten häufig nicht gedeckt seien.
Das Treffen mit Prager kam schneller zustande, als sie gehofft hatte. Der alte Dimitrios war ein netter Mann, ein wenig geschwätzig zwar, aber auch sehr hilfsbereit. Unangenehm war seine aufdringliche Art, mit jungen Frauen umzugehen. Er roch aus dem Mund und er ließ seine Hand überballhin wandern. Aber alten Männern konnte man einiges nachsehen. Er versprach, gleich mit dem Professor zu reden und einen Termin für sie zu arrangieren. Für Dimitrios war der Professor zweifellos ein großer Mann. Kein Wunder, ein Altertumsforscher wie Prager verschaffte seiner Stellung als Aufseher hier Ansehen und Bedeutung.
Es war ein schöner Abend gewesen. Lange hatte sie sich nicht mehr so gut mit einem Mann unterhalten. Sie hatte ihm von ihrem Studium erzählt und er hatte ihr interessiert zugehört. Er wies selbst darauf hin, dass er kein richtiger Professor war, sondern nur Geschichtslehrer. Das machte ihn sympathisch. Prager war überhaupt ein netter Mann, so einen hätte sie sich gern zum Vater gewünscht. Mit ihrem Stiefvater war sie nie zurechtgekommen. Vielleicht lag es daran, dass sie schon 17 war, als ihre Mutter diesen Bundeswehrbeamten aus Koblenz heiratete. Ihr richtiger Vater war damals schon zwei Jahre tot und Mutter konnte und wollte nicht allein sein.
Wir können doch auch ohne Mann auskommen, nur wir zwei, hatte sie damals zu ihrer Mutter gesagt, aber die ließ sich nicht mehr von diesem Langweiler abbringen. Typischerweise hieß der auch noch Walter, Walter Kübler. Immerhin konnte sie ihren Namen behalten, sie blieb eine Christ. Kübler wollte sie nicht heißen, wie das schon klang, naja, das war jetzt mit dem Tod der Eltern alles vorbei. Schade eigentlich, sie hätte es ihm vorher sagen sollen, dass sie ihn trotz allem ganz gern hatte. Walter war ihrer Mutter kein schlechter Ehemann und mit seiner Hilfe hatte sie sogar ihren Studienwechsel durchsetzen können. Sie hatte mit einem Lehramtsstudium begonnen, aber das war nicht ihre Sache. Mutter hatte immer gesagt, studiere was Anständiges, werde Lehrerin oder Architektin, von Ausgrabungen wirst du nicht leben können. Lass’ sie doch, Laura geht ihren eigenen Weg, hatte Walter Kübler gesagt. Für diesen Satz hatte sie ihrem Stiefvater sogar einen Kuss gegeben.
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