Die Keule des Herkules
Mitte Oktober: Die Toteninsel
Ölig schimmerte das Licht auf dem ruhigen Meer. Nach dem stürmischen Wetter der letzten Nacht herrschte wieder eine träge Stille über der Insel. An ihren Füßen hatte ein leichter Wind Dünen im Miniformat gebildet. Die beiden Alten saßen in der ersten Reihe des Römischen Theaters. Ihre leeren Blicke gingen übers Meer zur Südküste Kretas. Möwen hatten ihnen die Augen ausgepickt. Jetzt landete wieder eine, hüpfte heran, um den Kopf des Mannes zu untersuchen. Eine zweite und eine dritte fanden Interesse. Am blassblauen Himmel kreisten weitere Möwen. Das Paar saß da wie Philemon und Baucis , aneinander gelehnt und traulich im Tode vereint.
Als die ersten Touristen mit dem Ausflugsboot auf die Insel kamen, war es halb elf vormittags. Jetzt Mitte Oktober kamen in der Regel keine Ausflugsboote mehr von Makry Gialos herüber. Das Meer war zu unruhig und die Zahl der Touristen hatte jetzt rapide abgenommen. Aber nun war doch noch einmal eine Ladung von laut schwatzenden Fremden zusammengekommen. Die meisten Besucher liefen gleich zu den Stränden, dafür war die Insel bekannt. Die Strände mit dem smaragdgrünen Wasser gehörten zu den schönsten Kretas. Ein kleiner Junge entdeckte die beiden Alten, traute sich aber nicht in ihre Nähe. Seine Mutter stellte fest, dass sie tot waren, sie gab dem Steuermann des Ausflugsbootes Bescheid und der verständigte über Funk die Polizei.
Man konnte zunächst nicht feststellen, um wen es sich da handelte. Keine Papiere, kein Geld. Einen Umhängebeutel mit Badekleidung, Handtuch und Sonnencreme fand man unweit an einem antiken Mauerrest liegen und zwei Sektgläser aus Plastik, eine Sektflasche gab es nicht. Zu ihren Füßen lagen die zertrümmerten Gehäuse zweier Purpurschnecken der Art Bolinus brandaris , die auch unter dem Namen Herkuleskeule bekannt ist. In einem Plastikbecher blau-rote Farbreste und in einem Taschentuch die klebrigen Reste einer übelriechenden Masse.
Die Nachforschungen der griechischen Polizei ergaben, dass es sich bei den Toten um das Ehepaar Walter und Roswitha Kübler aus Endingen Deutschland handelte. Die beiden hatten sich in Sitia, einer Stadt im Osten Kretas ein Hotelzimmer genommen. Der Ausflug auf die Insel Koufonisi war eines ihrer festen Reiseziele.
Frau Kübler führte ein kleines Reisetagebuch, die Polizisten fanden es aufgeschlagen auf dem Sekretär im Zimmer der beiden Urlauber liegen. Da sie nicht zu den Passagieren eines der Ausflugsboote gehörten, die bei gutem Wetter jetzt noch täglich um 10.30 Uhr im Hafen von Makry Gialos starteten und um 16.30 von dort wieder zurückkehrten, hatten sie offensichtlich einen Fischer oder einen anderen Bootsführer gefunden, der sie auf die unbewohnte Insel brachte.
Nun schleimen sie wieder , sagte Walter Kübler hinter der Zeitung. Seine Frau Roswitha strich sich selbstgemachte Quittenmarmelade aufs Brot und wollte erst gar nicht fragen. Walter hatte die Gewohnheit, immer nur anzudeuten. Selten folgten Erklärungen, aber jetzt fragte sie doch nach: Wer schleimt? Walter Kübler legte die Zeitung zur Seite: Es gibt zwei Dinge in der Nahrungskette, die uns jedes Jahr Ärger machen. Das sind die neuen Pflanzen und die winterhungrigen Schnecken. Ich bestell’ jetzt doch das Buch über Schnecken. Erstens interessiert’s mich und zweitens will ich wissen, wie man den Biestern beikommt. Es kann doch nicht sein, dass die uns jedes Jahr den Salat fressen. In der Zeitung steht, dass man jetzt versuchen soll, die Jungtiere zu dezimieren bevor auch die sich wieder vermehren.
Roswitha Kübler dachte daran, was der Arzt gesagt hatte: Ihr Mann hat nicht mehr lange zu leben, genießen Sie die Zeit, die Sie noch mit ihm haben. Wie kann man denn genießen, wenn alles, was vorher war, nun plötzlich unterbrochen ist. Bei ihr mischten sich je nach Anlass Trauer, Wut und Ärger. Komisch, sie ärgerte sich auch jetzt über ihren Mann. Wie konnte der sich in seiner Situation um Schnecken kümmern? Er bestellt sich jetzt ein Buch und will verhindern, dass die Schnecken den Salat auffressen. Wie lange wird er denn selbst noch Salat essen können?
Was sind das bloß für furchtbare Gedanken. Seien Sie froh, hatte der Arzt gesagt, es ist selten, dass Menschen so kurze Zeit nach der Entdeckung ihrer Krebserkrankung an den Folgen dieser Krankheit sterben. Bei Walter hatte man Leberkrebs festgestellt. In der Regel, das hatte sie im Internet gelesen, dauert es acht bis zehn Jahre, bis sich aus einer entarteten Zelle ein Karzinom entwickelt, das man klinisch nachweisen kann. Aber es gibt Krebsformen, die lange Zeit unentdeckt bleiben, dazu gehört der Leberkrebs. Walter hat noch keine Schmerzen und von Beeinträchtigungen ist kaum was zu spüren. Aber es ist nur eine Frage der Zeit. Der Tumor hat gestreut und weitere lebenswichtige Organe befallen. Das kann jetzt sehr schnell gehen, hatte Dr. Tucher gesagt.
Drei Tage später hielt Walter Kübler ein Schneckenbuch in Händen, das keine Fragen mehr offen ließ. Natürlich stürzte er sich zuerst auf das einheimische Getier und erkannte schnell, dass Schnecke nicht gleich Schnecke war. Es gab Wegschnecken, Ackerschnecken, Bänder-schnecken, Schnirkelschnecken, Baumschnecken und andere Weichtiere, denen der Gärtner hilflos ausgeliefert zu sein schien, denn das Liebesleben und die Vermehrung der Schnecken schienen keine Grenzen zu kennen.
Wusstest du, rief Walter Kübler seiner Frau beim Durchblättern des Schneckenbuches zu, dass es sich bei den Schnecken in unseren Gärten um Hermaphroditen handelt? Um wen, rief Roswitha Kübler aus der Küche zurück. Um Zwitter! Die haben ein Organ mit männlichen, weiblichen und zwittrigen Teilen. Zu was das denn? Was fragst du mich! Hier steht, Walter Kübler setzte die Lesebrille auf und las, sie haben eine Keimdrüse, die Eizellen und Samenzellen herstellt. Damit die Schnecke aber ihre Eier nicht selbst befruchtet, werden Eizellen und Samenzellen nie zur gleichen Zeit produziert. Das ist vielleicht eine vernünftige Einrichtung, kommentierte Rosemarie Kübler, die nun aus der Küche gekommen war und sich ihre nassen Hände an der Schürze abtrocknete. Und wie kann man sich dann die Paarung vorstellten?
Walter Kübler, der neue Schneckenexperte nahm das Buch und dozierte: Während der Paarung drücken die Schnecken die Körperunterseiten aneinander und richten sich so auf. Dann stoßen sie sich gegenseitig den sogenannten Liebespfeil in die Körperunterseite. Das hört sich ja direkt nach Sex an, lachte Frau Kübler. Ja, Sex mit Folgen, denn jetzt kommt’s: Nach der Befruchtung legen die Schnecken die weißen, ungefähr Stecknadelkopf großen Eier in Erdlöcher, welche sie zuvor mit Hilfe des Fußes selber ausgehoben haben. Mein lieber Walter, dann geh’ mal schön in den Garten und heb’ die Erdlöcher aus, bevor der Nachwuchs unseren zarten Frühlingssalat vernichtet.
Eigentlich wollte Roswitha sagen, dass sich Walter jetzt nicht so viel Gedanken um die Schnecken machen sollte. Aber warum sollte sie ihn abhalten, warum sollte er jetzt nicht in den Garten gehen und Erdlöcher ausheben?
Wie Walter Kübler bald erkennen musste, gab es im Land der Schnecken viel zu entdecken. Er zog sich mit seinem Buch in den hinteren Teil des Gartens zurück. Hier konnte er ungestört lesen und sich die Sonne aufs Haupt scheinen lassen. Bis zum Mittagessen war noch etwas Zeit, Roswitha würde ihn schon rufen, wenn es soweit wäre. Über die Spanische Wegschnecke las er, dass diese den Gärtnern das Fürchten lehre. Als Südländerin sei sie auf trockenes Wetter eingerichtet. Sie produziere viel Schleim, um auch in trockenen Perioden gut vorwärts zu kommen.
Walter Kübler nickte anerkennend, als er las, dass ihr Kriechtempo 5-9 Meter in der Stunde beträgt. Wenn es ihr zu heiß wird, sucht sie ein Plätzchen im kühlen Schatten und macht dort ihre typisch südländische Siesta. Vor Feinden muss sie keine große Angst haben. Weil sie so schleimig ist und dazu noch besonders bitter schmeckt, verzichten viele der üblichen Fressfeinde von Schnecken lieber auf den Genuss einer Spanischen Wegschnecke.
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