Gene Wolfe - Die Klaue des Schlichters

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Severian, das ausgestoßene Mitglied der Gilde der Folterer, ist auf dem Weg nach Norden, denn er wird zur Strafe nach Thrax geschickt. Dort soll er als Henker dienen, doch die Reise hält einige Überraschungen für den jungen Mann bereit: Er verliebt sich in Agia, die Schwester eines Revolutionärs, den Severian hinrichten musste. Doch Agia flieht, und Severian sucht nach ihr. Dabei trifft er einen komplett grünen Menschen, der als Sklave auf einem Jahrmarkt ausgestellt wird. Angeblich kann er jede Frage beantworten – weil er aus der Zukunft kommt …

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Gene Wolfe

Die klaue des Schlichters

(Das Buch der Neuen Sonne - 2)

Aber noch entströmt deinen Dornen Kraft und deinen Schluchten der Klang von Musik. Deine Schatten liegen auf meinem Herzen wie Rosen, und deine Nächte sind wie starker Wein.

I

Das Dorf Saltus

Morwennas Gesicht, lieblich und von Haaren so dunkel wie mein Mantel umrahmt, schwebte im Lichtkegel; Blut prasselte vom Nacken auf die Steine. Ihre Lippen bewegten sich tonlos. Eingefaßt zwischen ihnen gewahrte ich (als wäre ich der Increatus, der durch einen Spalt der Ewigkeit in die Welt der Zeit spähte) das Gehöft, Stachys, ihren Gemahl, der sich gequält auf dem Lager wälzte, den kleinen Chad, der sich am Teich das fiebrige Gesicht benetzte.

Draußen schrie Eusebia, Morwennas Anklägerin, wie eine Hexe. Ich versuchte, die Gitterstäbe zu erreichen, um sie zum Stillsein anzuhalten, aber sofort verlor ich mich in der Finsternis der Zelle. Als ich endlich Licht entdeckte, war es die grüne Straße, die aus dem düsteren Gewölbe des Erbärmlichen Tores führte. Blut strömte von Dorcas’ Wange, und obschon so viele schrien und kreischten, hörte ich es auf den Boden prasseln. Ein so gewaltiger Bau war die Mauer, daß sie die Welt teilte wie die bloße Linie zwischen den Buchrücken zweier Bände; vor uns stand ein Wald, der wohl so alt wie die Urth selbst war, mit turmhohen Bäumen, in makelloses Grün gehüllt. Dazwischen verlief die Straße, die junges Gras bedeckte und auf der sich Männer und Frauen drängten. Ein brennender Einspänner belud die reine Luft mit Rauch.

Fünf Reiter bestiegen ihre Renner, deren gebogene Hauer mit Lazulith belegt waren. Die Männer trugen Helme und indigoblaue Umhänge und führten Lanzen, deren Spitzen stahlblau flackerten; ihre Gesichter glichen sich mehr als die Gesichter von Brüdern. An diesen Reitern brach sich der Strom der Reisenden, wie sich eine Welle an einem Fels bricht – nach links und rechts weichend. Dorcas wurde mir aus den Armen gezogen, und ich zückte Terminus Est, um alle zwischen uns Stehenden niederzuhauen, bemerkte jedoch, daß ich im Begriff war, auf Meister Malrubius einzuschlagen, der mit meinem Hund Triskele an seiner Seite ruhig inmitten des Tumults stand. Als ich ihn sah, wußte ich, daß ich träumte, wußte aber ebenfalls, daß die früheren Visionen von ihm, auch wenn ich sie im Schlaf erlebte, keine Träume gewesen waren.

Ich warf die Decken zur Seite. Das Leuten des Carillons vom Glockenturm drang an meine Ohren. Es war Zeit zum Aufstehen, Zeit zum Anziehen und Antreten in der Küche, Zeit, für den Bruder Koch einen Topf umzurühren und eine Wurst zu stehlen – eine pralle, pikante, halb verbrannte Wurst vom Bratrost. Zeit zum Waschen, Zeit, die Gesellen zu bedienen, Zeit, mir die Lektionen vorzusagen, ehe Meister Palaemon uns austrüge.

Ich erwachte im Lehrlingsschlafsaal, aber alles war verkehrt: eine blinde Wand, wo die runde Pforte hätte sein sollen, ein viereckiges Fenster, wo ein Bullauge hätte sein sollen. Die Reihe der harten, schmalen Pritschen war verschwunden, und die Decke war zu niedrig.

Dann war ich wach. Landdüfte – fast wie das liebliche Aroma der Blüten und Bäume, das von der Nekropolis durch die verfallene Ringmauer heranwehte, nun aber mit scharfem Stallgeruch versetzt – drangen durchs Fenster. Wieder läuteten Glocken von einem nahegelegenen Campanile und riefen die wenigen noch gläubigen Menschen zum Gebet um das Nahen der Neuen Sonne, obwohl es noch sehr früh war und die alte Sonne den Schleier der Urth kaum von ihrem Gesicht genommen hatte und im Dorf bis auf das Geläute Ruhe herrschte.

Wie Jonas am Abend zuvor entdeckt hatte, enthielt unser Wasserkrug Wein. Ich spülte mir damit den Mund, und seine zusammenziehende Eigenschaft wirkte erfrischender als Wasser, dennoch wollte ich mir mit ein wenig Wasser das Gesicht benetzen und das Haar glätten. Vor dem Schlafengehen hatte ich meinen Mantel mit der Klaue in der Mitte zusammengerollt, um ihn als Kopfkissen zu benützen. Ich breitete ihn wieder aus und steckte die Klaue in den Stiefelschaft, da mir einfiel, wie Agia einst versucht hatte, in meine Tasche am Gürtel zu greifen.

Jonas schlief noch. Meiner Erfahrung nach wirken Menschen beim Schlafen jünger als beim Wachsein, Jonas indes hat älter gewirkt – vielleicht auch nur altertümlich; er hatte das Gesicht mit der flachen Nase und flachen Stirn, das ich oft auf alten Gemälden gesehen hatte. Ich begrub die letzte Glut unter der Asche und ging hinaus, ohne ihn zu wecken.

Nachdem ich mich vom Eimer des Brunnens im Hof des Gasthauses frisch gemacht hatte, wurde es laut auf der Straße vor dem Gasthaus; Hufe trappelten durch die Pfützen des Nachtregens, und krumme Hörner klapperten. Jedes Tier war mehr als mannshoch, schwarz oder scheckig und halb blind, da ihm die Mähne über die rollenden Augen wirr ins Gesicht hing. Morwennas Vater war, wie mir einfiel, Fuhrknecht; vielleicht war es seine Herde, obwohl ich das nicht für wahrscheinlich hielt. Ich wartete bis das letzte plumpe Tier vorüber war, und beobachtete die nachfolgenden Reiter. Es waren ihrer drei, staubige, gemeine Männer mit Stachelstöcken, die länger waren als sie selbst, umringt von ihren scharfen, wachsamen Kötern.

Wieder im Gasthaus, bestellte ich mein Morgenmahl und erhielt ofenwarmes Brot, frisch geschlagene Butter, eingelegte Enteneier und gepfefferten, schaumigen Kakao. (Letzterer ein sicheres Zeichen dafür, daß ich unter Leuten war, deren Gebräuche sich vom Norden ableiteten, obschon ich’s damals noch nicht wußte.) Der haarlose Zwerg von einem Wirt, der mich gewiß am Vorabend im Gespräch mit dem Alkalden gesehen hatte, schwirrte, sich die Nase am Ärmel abwischend, um meinen Tisch und erkundigte sich jedesmal, wenn etwas aufgetischt wurde, ob es mir schmecke – es mundete offengestanden vorzüglich –, wobei er mir für den Mittag ein noch besseres Essen versprach und die Köchin, seine Frau, verfluchte. Er nannte mich Sieur, nicht weil er mich für einen inkognito reisenden Beglückten hielt, wie man in Nessus zuweilen geglaubt hatte, sondern weil ein Folterer hier als wirksamer Arm des Gesetzes ein großer Mann war. Wie die meisten Bauern konnte er sich keine soziale Klasse vorstellen, die um mehr als eine Stufe höher als die eigene war.

»Das Bett, war es bequem? Genügend Decken? Wir bringen noch welche.«

Mein Mund war voll, aber ich nickte.

»Also gut. Werden drei reichen? Ihr und der andere Sieur, habt Ihr’s bequem zusammen?«

Ich wollte schon sagen, daß mir ein eigenes Zimmer lieber wäre (nicht daß ich Jonas für einen Dieb hielt, aber ich befürchtete, daß die Klaue für jeden eine zu große Versuchung darstellte, und war es überdies nicht gewöhnt, zu zweit zu schlafen), als mir einfiel, daß er sich eine eigene Unterkunft womöglich gar nicht leisten konnte.

»Werdet Ihr heute dabei sein, Sieur? Wenn sie die Mauer durchbrechen? Ein Maurer könnte die Quadersteine rausreißen, aber man hat Barnoch sich drinnen bewegen gehört, und er könnte noch bei Kräften sein. Vielleicht hat er eine Waffe gefunden. Nun, er könnte dem Maurer in die Finger beißen, wenn nicht mehr!«

»Nicht als Amtsperson. Vielleicht sehe ich zu, wenn ich kann.«

»Alle kommen.« Der kahlköpfige Mann rieb sich die Hände, die rutschten wie geölt. »Es wird einen Jahrmarkt geben, wißt Ihr. Der Alkalde hat ihn ausgerufen. Recht geschäftstüchtig, unser Alkalde. Nehmt einen durchschnittlichen Mann – er sieht Euch in meiner Stube, aber denkt sich nichts dabei. Oder wenigstens nicht mehr, als Euch die Hinrichtung Morwennas aufzutragen. Ganz anders der unsrige! Er sieht alles. Er sieht alle Möglichkeiten. Im Nu entsprang der ganze Jahrmarkt seinem Kopf – bunte Zelte und Bänder, Bratfleisch und Zuckerwatte und alles, was dazu gehört. Heute? Nun, heute öffnen wir das versiegelte Haus und ziehen diesen Barnoch wie einen Dachs heraus. Das wird die Leute auftauen lassen, das wird sie von weither ringsum anlocken. Dann werden wir zusehen, wie Ihr mit dieser Morwenna und diesem Bauernkerl verfährt. Morgen beginnt Ihr mit Barnoch – mit heißen Eisen fangt Ihr für gewöhnlich an, nicht wahr? Und ein jeder wird dabeisein wollen. Übermorgen geht’s ihm an den Kopf, und die Zelte werden abgebrochen. Es taugt nichts, wenn sie zu lange herumhängen, nachdem sie ihr Geld ausgegeben haben; dann fangen sie nur zu betteln und zu raufen an und so weiter. Alles bestens geplant, bestens ausgedacht! Ihr könnt Euch auf den Alkalden verlassen!«

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