Fährmann stütze sich an der hohen Sessellehne ab und nahm eine leicht gebückte Haltung ein. Noch immer diese hündische Ergebenheit, dachte Prager. Zusammen mit Fährmann hatte Prager einmal Teile der Planungsunterlagen der NATO zu Wintex75 ausgewertet. Die westliche Allianz ging damals davon aus, dass für sie eine ungünstige Entwicklung in den internationalen Beziehungen eingetreten sei. Wenige Monate vor Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte wurde ein Szenarium angenommen, das eine Abspaltung europäischer NATO-Staaten von den USA vorsah. Sowohl für die Hauptverwaltung Aufklärung als auch für die Aufklärung der Nationalen Volksarmee unter Oberstleutnant a. D. Alfred Paul waren innerhalb der Übung eine Reihe von Einzelspielen interessant. Fährmann und er hatten damals ihr besonderes Interesse dem Logistik-Spiel gewidmet. Soweit er sich erinnern konnte, hatten sie es damals mit zwei besonders engagierten Quellen zu tun. "Eva" war im Verteidigungsministerium tätig und "Hagen" war Stabsoffizier bei der Bundeswehr in Koblenz.
Als ob Fährmann seine Gedanken erraten hätte, knuffte er ihm in die Seite: Na, Schmidtchen, immer noch in der Vorne-verteidigung tätig? Ich hörte, du bist nach der Auflösung unserer Abteilung beim Klassenfeind untergekommen. Das ist auch schon wieder Vergangenheit, lachte Prager. Man hat mich pensioniert und ab sofort stehe ich wieder der Altherrenriege von Horch und Guck zur Verfügung. Hört, hört, Genosse Schmidt bedient sich bereits der satirischen Sprache des Klassenfeinds.
Und was will Herr Schmidt von uns wissen, fragte Hessler. Der alte Fuchs hatte gleich geahnt, dass Schmidt/Prager nur gekommen war, um die Feindlage zu peilen. Prager wandte sich an Fährmann und legte dabei die rechte Hand auf Hesslers Unterarm, was soviel bedeuten konnte wie: Wenn Sie gestatten, Chef, kann Genosse Fährmann die untere Verhandlungsebene bestreiten. Hast du noch Verbindungen zu alten Kameraden von der Abteilung IV, wollte Prager wissen. Hat er, hat er, grinste Hessler. Vom Winde verweht, sagte Fährmann, aber wenn du wissen willst, ob die Freiburger Archive geöffnet werden sollen, ich kann dich beruhigen. Erstens ist da nichts Brisantes mehr drin und das, was Geschichtsschnüffler vielleicht noch heraus-finden wollen, ist längst bekannt. Schramm und Aichner haben erst kürzlich in ihrem Buch über die Militäraufklärung für alle nachlesbar das Wesentliche zusammengetragen. Das sind keine dummen Journalistenschwätzer, sondern Leute von uns und sie wissen, worüber sie reden.
Es gab immer schon drei Wahrheiten, sagte Fährmann: die historische, die persönliche und die tatsächliche. Was die beiden da publiziert haben, verdient jedenfalls Respekt. Viele glauben ja, mit uns verschwindet die Vergangenheit, aber mit solchen Büchern sind wir einfach nicht aus der Welt zu schaffen. Ja, ergänzte Hessler, Tatsachen schafft man bekanntlich nicht dadurch aus der Welt, dass man sie ignoriert. Das wusste schon der britische Schriftsteller Aldous Huxley. Heute will niemand mehr wissen, dass es eine NATO Doktrin zum Ersteinsatz von Nuklearwaffen gegeben hat. Ich erinnere nur an WINTEX, zu deutsch Winterübung. Dahinter verbarg sich das wohl gefährlichste und deshalb auch geheimste Manöver der NATO.
Ich erinnere mich, sagte Prager. WINTEX fand alle zwei Jahre statt. Im Westen blieb dieses Manöver weitgehend unbemerkt. Kein Wunder, ergänzte Fährmann, es wurden weder Panzer noch Flugzeuge eingesetzt.
Hessler versuchte ächzend in seinem Sessel eine bequemere Sitzhaltung einzunehmen. Prager war sich nicht sicher, ob der Oberst a. D. ohne Hilfe würde aufstehen können. Es handelte sich dabei um nichts weniger als um das Durchspielen eines Dritten Weltkrieges, knurrte der Alte und begann in seiner einschläfernden Art zu dozieren:
Das Szenario war eigentlich immer dasselbe: ausgehend von Jugoslawien entwickeln sich gefährliche politische Spannungen zwischen Ost und West, die schließlich zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der NATO und den Warschauer-Vertragsstaaten führten. Dieses Stadium war schon nach wenigen Tagen des Kriegsspiels erreicht. Nun setzten Friedensinitiativen von verschiedenen Seiten ein, begleitet von Unruhen in der Bevölkerung. Verhandlungsangebote der Warschauer –Vertragsstaaten wurden nur als Hinhaltetaktik und somit Kriegslist abgetan. In dieser Situation will keine Seite den Eindruck erwecken, dass man vor einem größeren Konflikt zurückschrecken würde. Kampftruppen werden an die Grenzen verlegt. Bis hierhin, meine Herren, war alles noch Vorspiel.
Ja, Wintex wurde erst in der zweiten Phase interessant, nickte Fährmann. Es kommt zu ersten Kampfhandlungen, nun geht es um die Freigabe für den Ersteinsatz von Atomwaffen. Das war ein Hauptübungsziel von Wintex. Es kommt für beide Seiten zu schweren und verlustreichen Kämpfen in deren Verlauf es den Roten gelungen war, auf Teile des NATO-Territoriums vorzudringen. Das westliche Verteidigungsbündnis hat nur noch Munition für einige Tage und der Nachschub reicht nicht. In dieser Situation stellt das militärische Oberkommando der NATO den Antrag zur Freigabe von Atomwaffen. Nur durch ihren Einsatz kann verhindert werden, dass der Widerstand der Allianz schon in kurzer Zeit zusammenbricht.
Meine Herren, wir sind schon mitten in der Analyse der Quellen. Wir waren damals über unsere Quellen „Michel“ und „Topas“ in der komfortablen Situation, vollständige Informationen erarbeiten zu können. Aber so weit ich weiß, waren Sie, mein lieber Schmidt, damals noch gar nicht bei der Truppe. Prager lächelte, nein, 1971 war ich noch einfacher Soldat, zur Militäraufklärung der NVA kam ich erst Mitte der 70er Jahre. Aber mir ist natürlich bekannt, dass es zwischen 71 und 77 keine Wintex-Übung gab, bei der es nicht zum Ersteinsatz von Atomwaffen gekommen ist. Anfangs war es nur eine Atombombe. Als ich ab 1975 an der Auswertung unserer Informationen beteiligt war, kamen schon Dutzende und zuletzt weit über Hundert zum Einsatz.
Auf einem silbernen Servierteller brachte Margot drei Kognakgläser vorbei. Ich habe etwas von Nachschubproblemen reden hören, lächelte sie. Sie ließ Prager und Fährmann die Gläser vom Tablett nehmen, sie selbst nahm sich das dritte Glas und zu ihrem Vater gewandt sagte sie: Auf dein Wohl, Papa, du weißt ja, dass dir der Arzt jeglichen Alkohol verboten hat. Dieser Quacksalber hat mir gar nichts zu verbieten, nur dir, mein Engelchen, gehorche ich aufs Wort. So ist es recht, aber wenn wir auf deinen Geburtstag anstoßen, brauchst du natürlich auch etwas zu trinken. Ja, hol mir den Lebertran, brummte Arnold Hessler und an Fährmann gewandt sagte Hessler: Hans, hilf mir mal beim Aufstehen. Die ganze Bagage soll sich jetzt am Buffet versammeln, es ist Zeit für eine Stärkung, ich kann sonst meine Rede nicht mehr halten.
Immer wieder hörte Prager die Türglocke. Weitere Gäste kamen. Prager kannte keinen von ihnen und begann sich in der Menge der Besucher zunehmend wohler zu fühlen. Hier traf sich die alte Abteilung mit ihrem Anhang, sicher waren auch einige Parteigrößen und Nachbarn dabei. Ein Mann mit einem runden, dummen Gesicht schüttelte ihm die Hand. Man sah ihm deutlich an, dass er ein Funktionär war. Der Mann wollte Pragers Hand gar nicht mehr loslassen, er schüttelte sie und nickte ihm auf eine unangenehm vertrauliche Art zu und Prager nickte zurück, um die Sache abkürzen zu können. Wodka gibt es in der Küche, aber verraten Sie mich nicht, Herr Schmidt. Und noch ein Tipp: Reden sie mit dem Genossen Hessler nicht über seinen Nachfolger, das kann er heute nicht gebrauchen. Ich weiß, sagte Prager, Generalleutnant Krause gehörte nicht zu seinen Freunden.
Prager hatte jetzt Gelegenheit, auch andere Gäste kennenzulernen und sich ein wenig im Raum umzusehen. Margot stellte ihm einen Mann im braunen Anzug vor. Er hielt eine rote Mappe in der Hand, darin offenbar eine Urkunde oder eine Rede, die bald gehalten werden sollte. Der Mann sah aus wie ein Schuldirektor, hieß Gregori und war, wie Prager später erfuhr, früher einmal der Fahrer von Hessler gewesen. Ein Dicker, dessen Gesicht an einen Pavianarsch erinnerte, sprach ihn mit Genosse an und wollte wissen, ob es lohne, auf Kreta Urlaub zu machen. Bevor Prager eine Antwort geben konnte, sagte der Dicke nur: Wir wissen alles. Dann drehte er sich weg und ging zum Buffet.
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