Prager wusste, dass sich die Spionageorganisation des Militärs unter Krause nach der Wende in aller Stille aufgelöst hatte aber es gab bis heute Kameradschaften. Man traf sich einmal im Monat, immer donnerstags zu sog. Vorstandssitzungen. Die stramme Garde hatte sich in der „ Kameradschaft Ehemaliger Berlin-Treptow “ zusammengeschlossen, einer Untergliederung des „ Deutschen Bundeswehr-Verbandes e.V. “. Wortführer in diesem Bundeswehr-Verein waren ehemalige NVA-Offiziere, die ihre Schlachten früher an der unsichtbaren Front geschlagen hatten: als Spione und Agentenführer des Militärischen Nachrichtendienstes der DDR. Hessler hatte es einmal so ausgedrückt: Wir sind zwar übergelaufen, aber wir haben nicht kapituliert und Arthur Franke, ein ehemaliger Chef der Militäraufklärung hatte gesagt: Wir sind erhobenen Hauptes eingeschwenkt, nicht mit erhobenen Händen.
Der Tisch mit den Leckereien stand im Wintergarten. Prager angelte sich ein Wurstbrötchen. Er sah, wie sich der alte Hessler von Fährmann Fisch und Kartoffelsalat auf einen Teller geben ließ. Margot kümmerte sich weiter um die Getränke und Elfriede hatte sich zu einem jüngeren Mann in die Palmenecke gesetzt, der ihr mit großen Gesten etwas Wichtiges zu beschreiben schien. Die Eltern des jungen Mannes standen mit einem anderen Ehepaar am Fenster und redeten über Studienabschlüsse, ganz offensichtlich hatten sie mit ihren Kindern ähnliche Probleme. Prager ging zum Buffet und holte sich ein weiteres Wurstbrötchen und betrachtete die Bilder an der Wand, ausnahmslos Fotografien, die Hessler im Kreise von Mitarbeitern und Genossen zeigte. Prager erkannte die Genossen Honnecker, Mielke und Franke. Auf einem Bild sah man den Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Ernst Thälmann, auf seinem Schoß der zweijährige Arnold Hessler. Das war zwei Jahre vor seiner Verhaftung, sagte Margot, die neben ihn getreten war. Prager nickte: Ich wusste nicht, dass die Familie Ihres Vaters mit Thälmann bekannt war. Das Bild hat ihm geholfen, Karriere zu machen. Die Eltern meines Vaters waren Kommunisten, aber gekannt haben sie den Thälmann eigentlich nicht. Das Foto entstand am Rande eines Parteitreffens.
Elfriede klatschte in die Hände, Genossen, ich bitte um Ruhe! Jemand hatte Arnolds Sessel auf die hölzerne Stufe, die zum Wintergarten führte, geschoben. In der leicht erhöhten Position hatte Hessler fast majestätische Präsenz und leicht hätte man ihn hier zum König ausrufen können, wenn es denn eine andere Zeit gewesen wäre. Ihm zur Seite stand der Mann mit dem braunen Anzug, der immer noch die rote Mappe in der Hand hielt. Jetzt nahm er ein Schriftstück heraus und übergab es Hessler. Liebe Genossen, begann Hessler und sein Tonfall war schon bei den ersten Worten so ermüdend, so typisch die Rede eines DDR-Bonzen, dass Prager, der auf Kreta ein mitreißender Führer durch die römische Geschichte geworden war, innerlich zusammensackte und jetzt gern einen Kognak mehr getrunken hätte, nur bitte dieses Mal keinen Goldbrand. Doch was half es, es gab keinen Kognak, nur einen Schrank, an den er sich lehnen konnte.
Hessler sprach von Geschichte und Aufgabe der Hauptverwaltung, von ihrem Beitrag zur Sicherung des Friedens und dass es höchster Anstrengungen zur Beschaffung von Informationen bedurfte, um politische und militärische Gefahren für die DDR und die anderen sozialistischen Länder erkennen und ihnen begegnen zu können. Wir haben mit den westlichen Diensten Katz und Maus gespielt, lachte Hessler auf merkwürdig gequälte Art. Prager horchte auf, jetzt wurde es doch etwas interessanter. Wir haben Mitte der siebziger Jahre jährlich circa 1.000 bis 1.500 militärische Gegnerdokumente und –informationen beschafft, näselte Hessler weiter. Über die bis 1980 geplante Entwicklung der Bundeswehr waren wir bestens im Bilde. Hessler blickte auf: Das haben wir auch den Genossen Schmidt und Fährmann zu verdanken. Hans Fährmann suchte Pragers Blick, die beiden nickten sich zu. Als Quellen dienten uns, fuhr Hessler fort, verteidigungspolitische Richtlinien der Bundesregierung, militärstrategische Konzep-tionen der Bundeswehrführung, Grundzüge der neuen Wehrstruktur, langfristige Rüstungs-planungen bis 1985 und die Streitkräfteplanung bis 1988.
Hessler Tochter Margot, die sich neben Prager gestellt hatte, stieß ihn sanft gegen die Schulter: Seit 1985 muss ich mir jedes Jahr das Gleiche anhören. Ich wette, jetzt kommt gleich die Sache mit der Abschirmung. Ein Geheimnis unseres Erfolges, war eine perfekte Abschirmung, fuhr Hessler in seiner Rede fort. Im Gegensatz zur HVA gab es keinen Hinweis auf die Existenz unseres Nachrichtendienstes. Sechsmal wurde der Deckname der geheimen Legion verändert, von „Allgemeine Abteilung“ bis zu „Bereich Aufklärung“. Viermal wechselte unser Hauptquartier den getarnten Standort, zuletzt waren wir das „Mathematisch-Physikalische Institut der Nationalen Volksarmee“. Unter uns, Kameraden, wir stehen heute besser da als die Kameraden von der HVA. Unsere Ruheständler erhalten standesgemäße Offizierspensionen. Prager dachte an seine Pension von 3 500 €. Er war vorzeitig im Range eines Majors ausgeschieden. Das hätte gereicht, aber die Pension für einen Studiendirektor brachte gut 1000 € mehr im Monat. Doch das war nicht das Ausschlaggebende für seinen Identitätswechsel gewesen. Er fürchtete eine späte Enttarnung und die Herabsetzung seines Ruhegehalts um die Hälfte. Dass Prager mit dem Tod seiner Frau auch ein reiches Erbe antrat, setzte dem Ganzen das Sahnehäubchen auf.
Die Geburtstagsfeier für seinen ehemaligen Chef empfand Prager, der hier als Genosse Schmidt vorgestellt wurde, als eine gruselige Sache. Dieses Haus mitsamt seinen Bewohnern und Besuchern kam ihm jetzt vor wie ein Weckglas für Ewiggestrige, die ihre Lebenslügen konservieren wollten. Er hatte auch einmal zu diesem Verein gehört, aber ihm war es immer um die technische Seite gegangen. Frieden, Sozialismus, Völkerverständigung, der Kampf der Völker um Freiheit und Unabhängigkeit, das waren für ihn immer nur hohle Phrasen geblieben. Ihn interessierten stets nur der klare Auftrag und dessen technische Umsetzung. Das Gequatsche auf der Metaebene widerte ihn an. Und er wusste ganz genau, dass Typen wie Fährmann in Wirklichkeit nur auf den eigenen Vorteil achteten und sich keinen Deut um die Fahne scherten, wenn es ernst wurde. Das hatte er mit ihnen gemeinsam, aber er machte kein so großes Gedöns daraus.
Früher waren zu Hesslers Geburtstag hin und wieder ganz interessante Leute erschienen. Frank Jähn, einmal Divisionskommandeur der Internationalen Brigaden, oder Karl Ilg, der einmal einen deutschen Weg zum Sozialismus hatte durchsetzen wollen. Oder auch Helen Spiro, die Brecht-Schauspielerin, die Elfriede und Arnold bei einem Empfang bei Hans-Joachim Hoffmann, dem ehemaligen Kulturminister der DDR kennengelernt hatten. Die Spiro hatte unter Ruth Berghaus im berühmten Berliner Ensemble gespielt. Sie gab am Geburtstagstisch stets komische, oft auch politisch anrüchige Geschichten vom Theater zum Besten. Der Funktionärstyp mit dem dummen Gesicht hieß übrigens Schädlich, wie Prager jetzt hörte. Er gehörte zu Hesslers größten Bewunderern, eigentlich ein netter Kerl, wie Prager feststellen musste, aber von einer geradezu tragischen geistigen Einfachheit. Seine irgendwie kranke Frau, eine ehemalig Polizistin, passte mit ihrem Mopsgesicht gut zu ihrem Mann.
Prager sah wieder zu Hessler hinüber. Vor seinem Sessel hatte eine noch recht junge Frau mit einem etwa zehnjährigen Jungen Aufstellung genommen. Die Frau beugte sich zu Hessler herunter und überreichte ihm ein Bild. Die Frau trug einen knallkurzen Rock und gemusterte Strümpfe. Prager war durch den Anblick ihrer gemusterten Strümpfe stark abgelenkt und überlegte schon, was er dieser Frau Freundliches sagen konnte.
Hesslers Tochter brachte ihm einen Kognak. Sie war Pragers Blicken gefolgt. Werden Sie mir nicht untreu, Herr Schmidt. Die Kleine ist mit meinem Bruder verheiratet. Den habe ich ja heute noch gar nicht gesehen, wunderte sich Prager. Der musste aus dienstlichen Gründen in Koblenz bleiben. Ach, ich wusste nicht, dass Ihr Bruder in Koblenz arbeitet, ich war ja auch eine Zeitlang... Ich weiß, Herr Schmidt. Ich habe das jetzt auch nur erwähnt, damit Sie wissen, dass Sie im Westen nach wie vor die richtigen Ansprechpartner haben. Ich werde übrigens über Weihnachten meinen Bruder besuchen.
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