Er hatte an das Machbare geglaubt, weil ihm der Blick hinter die Kulissen zu zeigen vermochte, dass schon ein bisschen Theater die Menschen täuschen konnte. Bis vor kurzem war er noch die graue Maus im unauffälligen Beige eines alternden Mannes, dann trat er als kundiger Führer im weißen Leinenanzug auf. Das Leben hält immer eine Alternative bereit.
Die Novelle des Dichters Gottfried Keller fiel ihm ein. Ein armer Schneider wurde wegen seines Äußeren für einen polnischen Grafen gehalten. Aus Schüchternheit versäumte der Schneider, die Verwechslung aufzuklären. Er entschloss sich, nachdem er sich in eine junge Dame verliebt hatte, die aufgedrängte Rolle weiterzuspielen. Die Geschichte ging gut aus, weil sich die Braut zu ihm bekannte und ihm mit ihrem Vermögen zu Wohlstand und Ansehen verhalf.
Im Unterschied zum armen Schneider aus Kellers Geschichte habe ich meine Geschichte selbst gestaltet und der Reichtum ist mir nicht zugefallen, sondern mit kalter Berechnung erworben worden, dachte Prager und musste lachen. Er hatte sich völlig neu erfunden, konnte nun aber mit seinen Pfunden nicht wuchern, das war ärgerlich. Aber muss ich denn jetzt wirklich zurückstecken und das unauffällige Dasein eines Rentners führen? Eine verzwickte Situation. Ich könnte Prager sterben lassen und mich in einem anderen neu erschaffen! Aber nein, nicht noch einmal diesen Aufwand betreiben. Es genügt, wenn ich jetzt Körner heiße – obwohl, die hier in Lentas und Agia Galini nennen ihn immer noch Prager. Er hat nichts dagegen.
Die Gedanken zuckten hierhin und dorthin und er dachte: Das kommt also dabei heraus. So viel Streben, Hoffnung, Fortschritt, und am Ende steht ein Mann am Geländer seiner Veranda und schaut aufs Meer hinaus und hinüber zum Felsen und hinunter zum Strand; steht da und weiß nicht, worauf er wartet. Furchtlos und schrankenlos ohne einen Gedanken an ein Morgen zu verschwenden, so sollte man leben, dachte Prager. Aber ich stehe hier und weiß nicht, in welche Richtung ich mich bewegen soll. Oelzes Bild kam ihm in den Sinn.
Er dachte an Gerlinde. Ihre gemeinsame Zeit in Lentas war ein Idyll gewesen. Aber er wusste, ein Idyll wird per definitionem erst dann zu einem Idyll, wenn es vergangen ist. Es gab Erwartungen auf beiden Seiten, die er entweder nicht erkennen oder auf die er nicht eingehen wollte. Sie liebte ihn mehr als er sie – war es so? Das war vielleicht eine ihrer Unvereinbarkeiten.
Er hatte ihr die Leitung der Galerie übertragen und er hatte sie geheiratet. Hatte die Heirat etwas verändert? Sie wollte es und er wollte es auch. Doch ihre Motive waren nicht dieselben. Sie wollte sich auch im persönlichen Bereich endlich etablieren, das stand so in ihrem Lebensplan. Und er, ja, was verband er mit der Verheiratung. Auch ihm konnte diese Art der Etablierung nützen. Über eine Ehefrau konnte er sich geschäftlich absichern. Bei Abschlüssen, welcher Art auch immer, musste er nicht in der ersten Reihe stehen. Trotzdem musste er aufpassen, damit ihm die Fäden nicht aus der Hand genommen wurden.
Ja, Gerlinde wollte diesen Sommer wieder zu ihm nach Lentas kommen und ja, er freute sich darauf. Aber er war auch froh, dass er jetzt allein war. Auf die Suche nach einem neuen Leben konnte man sich nur allein begeben, das war zumindest seine Einstellung. Zusammen war dies nur eingeschränkt möglich, weil er mit ihr sein altes Leben nicht teilen konnte und wollte.
Gestern hatte er sich beim alten Dimitrios zurückgemeldet. Mit einem Ouzo feierten sie ihr Wiedersehen im El Greco . Alle standen sie um ihn herum, die drei Brüder Alexis, Stavros und Stefanos, die Grigorakis, seine ehemaligen Vermieter und ihre Tochter Elpida, die im Zorbas nach dem Rechten sah und noch immer zu ihm zum Saubermachen kam. Man ließ den deutschen Professor hochleben und alle umarmten ihn kräftig. Dass er jetzt nicht mehr Prager, sondern Körner hieß, sagte er nicht. Wozu auch, die griechischen Freunde hätten das ohnehin nicht verstanden.
Dimitrios, den Prager zuerst aufgesucht hatte, genoss sichtlich seine Vorzugsstellung. Immer wieder kam er wortreich auf ihr gemeinsames Projekt, aus dem Heiligtum des Asklepios eine internationale Begegnungsstätte zu machen, zurück. Sein Freund, der Professor, hieß es, werde dabei die Leitung des Unternehmens übernehmen und er, so ließ er augenzwinkernd durchblicken, werde das Geld einnehmen.
Prager nahm sich vor, seinem Freund bei nächst bester Gelegenheit schonend beizubringen, dass er selbst nur noch als interessierte Privatperson das Unternehmen verfolgen werde. Eine falsche Gold-gräberstimmung wollte er hier in Lentas erst gar nicht aufkommen lassen. Er musste deutlich machen, dass er weder willens noch dazu in der Lage war, eigenes Geld in den Kulturtourismus zu investieren. Es konnte gut sein, dass man hier seinen Hauskauf für mehr hielt als es war. Ihm stand am allerwenigsten der Sinn nach Lärm und Betriebsamkeit. Er suchte in diesem Dorf Ruhe und Zurückgezogenheit. Jetzt aber konnte man nicht darüber reden. Es wurde reichlich Ouzo nachgeschenkt und Prager konnte sich getrost für den Rest des Tages von jeglicher geistigen Anstrengung verabschieden. Es fiel ihm daher nicht sonderlich auf, dass Dimitrios immer wieder von einer schönen Frau, ómorfi gynaika , zu reden begann und dabei Pragers angebliche Wirkung auf Frauen im Allgemeinen herausstellte.
Prager wusste, dass der alte Tempelwächter seine Freundin Gerlinde ins Herz geschlossen, dass er ihr sogar nach Deutschland einen Brief geschickt hatte. Dabei war der Brief ja eigentlich an ihn, den Herrn Professor gerichtet. Aber weil sich der Herr Professor ja immer auf Reisen befand, musste der Brief an die Frau Körner nach Freiburg geschickt werden.
Alle, auch die drei Brüder vom El Greco , konnten sich noch lebhaft daran erinnern, dass im letzten Jahr die Polizei im Ort war, begleitet von zwei deutschen Polizeibeamten. Sie hatten jeden im Dorf nach einem Mann befragt, der sein Fernglas auf die Ferienwohnung des Professors gerichtet hatte. Ein Spanner, vermutete einer der Brüder, als Dimitrios im Dorf erzählte, was er beobachtet hatte. Dimitrios wusste zu berichten, dass der Mann ein deutscher Kommissar gewesen sei, der etwas über ihren Professor herausfinden wollte. Also, wenn das ein Kommissar war, lachte Alexis, dann hat die deutsche Polizei aber ziemlich dumme Kommissare. So wie der sich benommen habe, das sei wie in einem schlechten Film gewesen. Der Xanthoula Grigoraki vom Zorbas habe der komische Kommissar ein Bild vom Professor gezeigt, ein schlechtes noch dazu, wie Xanthoula lachend bestätigen konnte. Er habe sie gefragt, ob sie den kenne und ob der hier eine Wohnung habe. Sie habe nur nach oben zum Hang gewiesen. Dass sie auch die Vermieterin der Wohnung war, habe sie nicht gesagt. Man muss der Polizei ja nicht gleich alles erzählen!
Was ihm Dimitrios von der schönen Frau eigentlich erzählen wollte, erfuhr Prager erst am nächsten Morgen, als er den Wächter des Heiligtums auf seinem angestammten Areal besuchte. Es ging, wie sich nun herausstellte gar nicht um Gerlinde, sondern um eine junge Frau, die in Lentas gerade Urlaub machte und ein besonderes Interesse für Asklepios zu haben schien. Dimitrios hatte ihr voller Stolz erzählt, dass es im Ort einen deutschen Professor gäbe, der alles wüsste und darüber hinaus sogar archäologische Führungen in Gortyn anbieten würde. Er habe, sagte Dimitrios grinsend, der jungen Frau versprochen, sie mit dem Professor bekannt zu machen. Noch heute wolle sie vorbeikommen und fragen, ob der Professor einmal Zeit für sie habe. Ich bin am Nachmittag zuhause oder im Zorbas , sagte Prager. Du kannst sie ruhig zu mir schicken. Wenn sie mir lästig wird, verbanne ich sie an den Strand zu ihren Altersgenossen. Dort ist es vermutlich unterhaltender für sie, als bei meinen alten Geschichten.
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