„Armer Kerl, Georg, alles doch kein Grund für Tränen bei einem ausgewachsenen Mann.“ Sie habe ihm mit diesen Worten einen vorsichtigen Willkommensgruß mehr neben die Wange als auf die verschmierte Haut gehaucht.
„Gerd, wenn wir beide hier uns nicht ganz missverstanden haben, besucht uns der Enkel Georg meines Onkels Ernst aus Leipzig“.
Gerd habe nicht schlecht gestaunt über den Sinneswandel seiner Frau. Trat ihre Verwandtschaft Besuche in diesem Aufzug an? Habe säuerlich angemerkt, ganz so übel sollte es doch inzwischen nicht mehr zugehen im Arbeiter- und Bauernstaat. Mochte auch ein entfernter Bezug zu Evelyn vorliegen, der Mann war ihm gestört erschienen. Selbst wenn hier ein Wiedersehen vor sich ging, sei das kein Grund zu Tränenseligkeit in Dreck und Speck. Natürlich sollte er Hilfe haben, das sei man der Verwandtschaft schuldig.
Das Badezimmer hatte Hermann aufgenommen. Warum stand nicht am Ende der Fahrt das Bad See? Er hatte sein Versprechen an Elvira nicht gehalten. Wieder war dieses Würgen in den Hals gestiegen. Es wurde durch Tränen nur wenig abschwächt. Dieses mal hatte er sich die Linderung versagt, die sie mit sich brachten. Natürlich waren Tränen nicht am Platz gewesen. Der Druck ließ sich kurze Zeit lang ertragen wenn er sich sehr zusammennahm.
Ein jämmerlicher Anblick, sein Gesicht im Spiegel! Erstaunlich, dass die beiden Autofahrer gestern diesem Strolch die Mitfahrt angeboten hatten. Er hatte sich an ihr Zögern nach dem Stopp erinnert, als er an das Auto herangetreten war. Der Tag war noch jung gewesen nach Beginn der Morgendämmerung. Im schwachen Licht hatte man das verschmierte Äußere erst spät erkannt. Er war dankbar gewesen, dass man ihm wenigstens die Mitfahrt auf der Ladefläche zugestanden hatte.
Kaltes Wasser hatte der Stirn und den rot unterlaufenen Augen gut getan. So kannte er sich wieder. Durfte er guten Gewissens in den Spiegel schauen? Warum war Elvira nicht an seiner Seite? Der Empfang hätte anders ausgesehen wenn sie mit ihm zusammen eingetroffen wäre.
Seine Cousine Evelyn hatte ihm ein Hemd und ein paar Sachen durch die Tür gereicht. Stamme von ihrem unangenehmen Partner namens Gerd, hatte Hermann angenommen. Gerade noch hatte der ihn unverschämt ausgelacht. Sollte er eingehen auf das Angebot? Schrader hatte eingesehen, so wie er hier angetreten war, durfte er keine Wendung zu mehr Respekt erwarten. Er hatte sich die Unterwäsche, Hemd und Hose angezogen. Auch nicht besser gewesen, die Qualität, als die aus der HO! Der Tag solle nicht ausbleiben, an dem er sich revanchieren würde für die herablassende Mildtätigkeit vom hohen Roß.
Ein äußerlich verwandelter Hermann Schrader war aus dem Zimmer herausgetreten. Nur Evelyn hatte nebenan gewartet. Ihr Mann Gerd hatte sich absichtlich abseits aufgehalten. Diskretion beim Wiedersehen der lange getrennten Cousins war angebracht erschienen.
Die Szene war Schrader bei jeder Wiederholung des Berichtes über seine Ankunft in Ostheim deutlich in Erinnerung getreten: Evelyn stellte keine Fragen, nahm vermutlich an, ihr Cousin brauche erst einmal seine Zeit zur Orientierung. Was hatte ihn so extrem aus dem Gleichgewicht gebracht? Sie wollte wahrscheinlich nicht aufdringlich wirken gegenüber dem unerwarteten Besuch. Wenn sie jetzt in ihn drang, würde er nicht zu Unrecht ungehörige Neugier unterstellen. Auch Hermann sprach zunächst kein Wort. Schließlich brach sie das Schweigen:
„Damals habe ich dich Schorsch genannt. Warum jetzt Hermann“?
„Aus Widerwillen gegen einen Klassenkameraden, der auch so hieß. Alle haben sich schnell daran gewöhnt“
„Meine Eltern sind erst heute Nachmittag wieder zuhause. Du musst sehr müde sein. Kannst hier gerne bleiben, bis es dir besser geht, auch einige Tage wenn du willst. Unser Platz hier reicht aus. Selbstverständlich fahren wir heute Nachmittag zusammen nach Offenbach. Es ist kein weiter Weg. Ich bin mir sicher, die Eltern freuen sich. Ihr müsst euch von früher her noch besser kennen als wir zwei.“ Hermann gab nicht gleich Antwort. Als Gerd Mahlmann zu ihnen trat, stierte der Gast geistesabwesend in Richtung auf das große Fenster zur Veranda. Schrader bot jetzt einen vorzeigbaren Anblick, sah man von seiner Körperhaltung ab. Gebrochen, ein Mann, in diesem Alter. Geschlagen, plattgemacht. Mahlmann schien, so wie der sich hier präsentierte, wirkte er wie ein abgestrafter Hund. Der Vergleich drängte sich auf, denn die Mahlmanns hielten seit einiger Zeit einen Dobermann im Haus.
Also doch kein Entsprungener der Anstalt! Allem Anschein nach war dieser Hermann oder Schorsch körperlich gesund. Weshalb dann dieses Elendsbild von einem Sachsen? Typisch für den Menschenschlag dort konnte er nicht sein. Nach allem was über die Grenzschützer und die Sportler der DDR bekannt war, waren die Leute dort keine Jammerlappen. Er stand vor der gleichen Frage wie seine Frau: Was hatte den Cousin so aus der Bahn geworfen? Gerd sagte:
„Schon besser so, Hermann. Ich heiße Gerd und gehöre zu Evelyn. Von der Autobahn aus bis hierher zu laufen strengt schon an bei dieser Hitze.“ Hermann blieb stumm. Gerd zog die Augenbrauen hoch und heftete den Blick auf seine Frau.
„Sicher kommst du von weiter her. Erzähl uns davon nach einer Stärkung.“
Hermann griff zu. Nach zwei hastigen Bissen schob er den Teller von sich weg. Der Druck war zu stark als dass er essen konnte. Seit dem Aufwachen aus der Betäubung heute morgen fühlte er den ganzen Körper schwer und gepanzert wie einen übergroßen Stein. Ein Brennen war zu Spüren. Natürlich brennen Steine nicht. Vielleicht begann in ihm schon die Verdauung seiner Magenwände. Er würde nicht mehr essen. In seiner Lage verlor jede Maßnahme zur Verlängerung des Lebens ihren Sinn. Noch aber war er nicht tot wie Elvira. Würde er ihr überhaupt nach dem eigenen Tod näher sein? Das war unsicher, aber zumindest dieser Albtraum, den er seit gestern erlebte, wäre ausgestanden.
Das Verlangen nach einem Ende war auf Widerspruch gestoßen. Meldete das Leben sich zurück? Jede Wendung zum Besseren setzte Aufnahme von Nahrung voraus. Er griff zu einer Scheibe Brot und würgte sie widerwillig in sich hinein. Die Anstrengung lohnte nicht. Alle Kraft war zu konzentrieren auf die Selbstbehauptung gegen den überstarken Wunsch, loszuheulen wie ein Kind. Gerd Mahlmann wurde bewusst: besser wäre gewesen, er hätte sich den traurigen Anblick und dem Besucher die Demütigung dieser Szene erspart. Zumindest der Versuch einer Aufklärung über die Begleiterin sollte aber nicht unterblieben sein, ehe man den Mann seiner augenscheinlichen Verzweiflung wieder überließ. Immerhin hatte er auf die Anspielung auf Hermann und Dorothea vorhin reagiert.
„Also Hermann, mit Dorothea hat es nichts weiter auf sich, oder sollten wir sie suchen?“ Er hatte sich auf seine Frage hin stumpf angeglotzt gesehen. Der Gastgeber hatte den Blick von seinem Besucher abgewendet. Gerd Mahlmann hatte gemeint, wieder Tränen erkannt zu haben.
Hinter Bad Hersfeld beherrschten PKW aus der DDR das Bild der Fahrbahn in Richtung West. Meistens Trabant, viele Wartburg, auch einige Moskwitsch machte Schrader aus. Diese Autotypen bekam man sonst nur dann und wann im Fernsehen zu Gesicht. Die Trabant fuhr man dem Anschein nach oft schneller als ihnen auf Dauer bekommen konnte. Bei näherem Hinsehen stießen die meisten blaue Auspuffwolken aus. Hier beeilten sich Leute zum Besuch auf einem Terrain, das ihnen lange verschlossen gewesen war.
Zweitaktmotore, dachte Schrader, robust, mit unempfindlicher Mechanik. Zahnstangen, Kipphebel, die Ventile, eine ganze Reihe anfälliger Einzelteile fiel bei dem Antrieb weg. Auf seiner Seite der Grenze hatte sich trotzdem der Viertakter längst durchgesetzt. Man mochte drüben gute Gründe gehabt haben für das Beharren auf diesem Motortyp. Mit herablassender Geringschätzung wurde man ihren Vorzügen nicht gerecht.
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