1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 Er würde ihr wieder nah sein können, seine Arme, nicht die schmutzigen Schuhe nahe bei ihrem Gesicht. Die Nähe zwischen ihnen hatte sie mehr als einmal alles andere vergessen lassen. Sie würde auch jetzt wieder Wunder wirken, wenn das noch nötig war. Den Gedanken, dass in der Zwischenzeit sich nichts gebessert hatte, unterdrückte er so gut es ging. Es gelang ihm schlecht. Hässlich nagte im Kopf die Furcht, Elviras Zustand habe sich in der Zwischenzeit verschlechtert. Er erlaubte das nicht, es durfte nicht sein. sie gehörten zusammen; keiner, auch nicht der liebe Gott, durfte schuld daran sein, dass sie litt. Mit ausgetrocknetem Mund stammelte ein immer gleiches Stoßgebet.
Während der vielleicht zehn Minuten bis zum Rohrausgang hatte er mehrere Male den Kopf gewendet und gebrüllt: „Bin gleich zurück.“
Die Stimme trug anscheinend nicht weit. Ihm selbst war sein Ruf schrill und dabei kraftlos vorgekommen. Keine Verstärkungswirkung! Wahrscheinlich schluckte die Röhre den Schall statt ihn zu verstärken. Eigentlich durfte das nicht sein, sagte ihm sein Sachverstand. Vielleicht dämpfte die feuchte Oberfläche im Rohr oder die Schlammschicht unter ihm die Weiterleitung.
Jetzt, auf dem Rückweg, schrie er in kurzen Abständen in die leere Dunkelheit vor seinem Gesicht:
„Ich komme“, „habe Hilfe dabei.“ Sie meldete sich ebenso wenig wie vorhin. Dann war Elvira erreicht. Seine Hände berührten ihren ausgestreckten Arm. In der Finsternis hatte er sie auch auf einen halben Meter Abstand vorher nicht gesehen.
„Endlich, Liebes, ich bin so froh. Du wirst sehen, alles wird gut“, keuchte er, noch erschöpft von der hastigen Vorwärtsbewegung im Rohr. Er streichelte ihre Hände und führte sie, aneinandergelegt, vor seinen Mund. Ihre Finger verteilten die Tränen aus seinen Augen über das Gesicht. Seit er sie allein gelassen hatte, waren sie in seiner Hilflosigkeit geflossen. Hermann schämte sich nicht dafür.
Immer noch zeigten die Hände die gleiche Kälte wie vorhin. Sie sprach kein Wort, auch bei der tröstenden Berührung ihres Kopfes und des Gesichts. Eine unsinnige Angst stieg in ihm auf. Er rief sich selbst halblaut auf zu Übersicht und Nüchternheit. So wie vorhin, würde sie zu sich kommen nach einiger Zeit. Er fühlte nach dem Puls am Handgelenk. Anscheinend zu schwach für eine zitternd suchende Hand. Auch vorhin hatte er ihren ganz leisen Atem kaum gehört, ehe sie zu sich kam. Jetzt keuchte er selbst zu laut. Erst mußte er selbst zu mehr Ruhe kommen, vorher hielt er in seiner Gefühlsverwirrung schwache Sinneseindrücke nicht auseinander.
„Komm zu Dir, das Schlimmste ist vorbei. Ich bin bei dir und ziehe dich heraus. Du musst dich selbst nicht mal bewegen.“.
Die Worte, mehr angstvoll gestammelt als klar gesprochen, hörte Elvira nicht. Wieder wurde ihm Geduld zum Warten abgefordert wie vorhin, sagte sich Hermann. Er wollte sie nicht noch einmal ängstigen durch die Beleuchtung der Misere. Es würde nur zusätzlich die Enge deutlich machen. Dann löste er die Lampe doch aus ihrer Hand und machte Licht. Elvira blickte ihn mit offenen Augen an. Sie lag seitlich leicht angelehnt an der Wandung des Rohres und schlief. Die Hände waren dort auf den Boden gesunken, wo er sie eben losgelassen hatte. Das Gesicht, obwohl verschmiert durch Tränen und Dreck, drückte Frieden aus. Er hatte sie mit diesem Ausdruck einige mal schlafen sehen und sich an ihr gefreut. Nur die offenen Augen passten nicht ins Bild.
Wieder beschwörend und behutsam zugleich:
„Komm zu dir“, ein Anruf, der sie nicht mehr erreichen sollte? Konnte es sein, dass sie nicht mehr am Leben war? Hermann hatte keine Erfahrung mit dem Tod. Furcht packte ihn, die drohte, ihm den Verstand zu rauben. Zu seinen Tränen trat lautes Protestgeschrei. Er durfte sie nicht verloren haben. Ein Ende, so schrecklich und so früh, ließ ein gütiger Gott nicht zu. Keiner hatte verdient, in einer solchen Röhre elend zu krepieren. Ausgeschlossen, dass man als junger Mensch an Platzangst starb. Sie würde die Augen wieder schließen wenn diese Ohnmacht überstanden war. Vorsorglich würde er erste Hilfe leisten. Das konnte nicht völlig falsch sein wenn ihre Atmung so schwach war, dass er sie nicht hören konnte. Hermann schob seinen Kopf neben ihren und versuchte sich ungelenk in Reanimation. Öffnete ihren Mund und presste, rhythmisch wiederholt, Luft hinein. So hatte man es ihm vor Jahren in einem Kurs beigebracht. Lang wartete er dann, forderte mit hilflos wiederholter Anrufung vergeblich ein Lebenszeichen.
Elvira kam nicht zu sich. Beide mußten sie erst mal raus aus diesem Verlies! Er schlang die Ärmel seines Hemdes zu einem festen Knoten. Die Schlinge wand er keuchend um Elviras Rücken und führte sie unter den Schultern durch. Vorsichtig legte er ihre Arme zurück an die Seiten, so, dass sie die Bewegung nach vorne nicht behinderten. Vorder- und Rückenteil des Kleidungsstückes legte er zwischen die Zähne und bog den Kopf hoch in den Nacken. Elvira bewegte sich. Sie waren bereit. Auf diese Weise war langsamer Fortschritt zum Ausgang möglich. Einen Augenblick lang bedachte er, es würde sogar zu ihrem Vorteil sein, wenn sie erst draußen wieder zu Bewußtsein kam. Dann würde die Enge schon überwunden sein, die ihr beinahe zum Verderben geworden war. Die freien Hände gegen die Rohrwand abgestützt, schob er sich zurück. Elvira folgte erst anschließend, willenlos in ihrer Schlinge. Etwa einen halben Meter Fortschritt brachte jeder Zyklus. Der Ablauf war zeitaufwendig, aber er führte zum Ziel. Vorsicht war geboten in Anbetracht der Haltbarkeit des Stoffes. Kein Hemd der Welt, auch nicht sein Hemd der HO in Leipzig war für solche Beanspruchungen ausgelegt. Sollten die Ärmel an den Schulternähten reißen, hätten sie keinen Ersatz. Er zog immer soweit möglich behutsam an. Einstweilen widerstand der Stoff. Elvira blieb weiter stumm. Er konzentrierte sich jetzt ganz auf das Geschäft der Fortbewegung.
Nach etwa dreißig Metern hörte er ein schwaches Geräusch, als löse sich eine Naht. Hermann verdoppelte seine Vorsicht jeweils wenn er die Schlinge zu sich zog. Glitt Elvira erst einmal zu ihm hin nach dem kleinen Ruck, den er brauchte, die Bewegung einzuleiten, fiel der Widerstand immer deutlich ab.
Ohne ein auffälliges Hindernis auf ihrer Bahn, riß dann einer der Ärmel glatt ab. Hermann hätte gerne laut aufgeheult vor Enttäuschung. Diesmal gewannen Kopflosigkeit nicht die Oberhand. Wenn die Schlinge die Belastung nicht aushielt, würde er mit einer Hand Elvira hinter sich herziehen bis zum Verlassen dieser Hölle. Er wendete ihren rechten Arm vorsichtig unter dem Rohrdach zu sich hin. Dann schob er sich soweit von ihr weg, dass seine linke Hand ihre Rechte gerade fassen konnte. Stützte sich mit seinem freien Arm und den Füßen gegen die Rohrwand ab und versuchte, sie zu sich heranzuziehen. Die beiden Körper bewegten sich ein kleines Stück aufeinander zu, Hermanns etwas weniger in Elviras Richtung als sie hin zu ihm. Seine stützend Hand war abgerutscht. Die Nässe an der Oberfläche hatte nicht den Halt gegeben, die zum Aufbringen der Kraf notwendig gewesen war. Elvira war um nicht mehr als zehn Zentimeter zu ihm nach vorn gerutscht. Er versuchte es noch einige male, immer wieder mit gleich enttäuschenden Erfolg.
Hermann keine Tränen mehr. Er sah die Zwecklosigkeit dieser Bemühung ein. Stumpf flüsterte er sein immer wiederholtes „Komm zu dir“ auf sie ein. Innerlich wusste er längst, sie würde nie wieder zu sich kommen. Das leichte Fächeln des Atems von vorhin war ausgeblieben. Seit er zurück war, ging Totenstille von ihr aus. Totenstille. Hermann schauderte bei dem Wort. Der Lichtschein der Lampe zeigte, der Anblick war unverändert. Die geöffneten Augen blickten ihn scheinbar unbeteiligt an. Hermann Schrader riß seine Lippen auseinander zu einem Schrei, der ihm nicht gelang. Er hielt den Schrecken nicht länger aus. Schob sich von ihr weg mit der eiligen Gangart einer Robbe an Land, nicht mehr in schlängelnder Bewegung sondern auf flach angewinkelte Ellenbogen und die Knie statt die gestreckten Beine abgestützt, trat er den Fluchtweg an. Die Lampe blieb bei Elvira zurück. Sie erschien ihm im Nachhinein wie eine Grabbeigabe.
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