Er hätte, wäre es notwendig, hier stundenlang bequem verweilt. Erinnerungen tauchten auf an ganz frühe Kindertage. Damals zählte zu den Vergnügungen zuhause der Aufbau großer Zelte aus Wolldecken, mit Wäscheklammern an den Möbeln festgemacht. Zusammen mit dem Vater hatte er sie aufgebaut. Fertiggestellt, blieben sie dann ihm allein vorbehalten. Je niedriger die freie Höhe im Zelt ausgefallen war, desto größer die Lust an der Unzugänglichkeit für andere in seine Zuflucht. Er hatte seine Spielsachen hinein geschleppt und sich auf eine weiche Unterlage lang hingelegt. Ein Gefühl königlicher Absonderung von der Familie. Den Großen war der Zutritt durch sein Verbot streng verwehrt. Am liebsten hätte er die Unterkunft tagelang zu seinem Aufenthalt gemacht im Wohlgefühl der selbst bestimmten Abgeschiedenheit.
Hatte nicht auch ein Philosoph in einem Rohr sein Glück gefunden? Er unterbrach den Gedankengang. Abschweifungen waren ihm nicht erlaubt, während sie litt. Von hier unten jedenfalls mußten sie so schnell wie möglich zurück ans Tageslicht.
Erneuter Aufbruch half mehr als endlose Verlängerung der Pause. Bei aller Beklemmung, wußte Elvira sehr wohl, jedes Rohrelement, das sie hinter sich ließen, brachte sie näher an ihr Ziel.
Sie schien gestärkt. Die Hand hatte sich seit der tröstenden Berührung vorhin nicht erwärmt. Ihr Atem ging jetzt anscheinend wieder flacher. Überstanden der Anfall von Kleinmut und Ängstlichkeit, dachte Hermann. Sie hatte Kraft für den nächsten Abschnitt geschöpft. Er löste ihren Griff vorsichtig und schob sich wieder ein Stück von ihr weg in Richtung auf den unsichtbaren Ausstieg. Viel länger hätte die Kraft nicht ausgereicht für das Verharren in der unbequem verkrümmten Haltung.
Die Anstrengung hatte zuletzt auch bei Hermann Keuchen und einen beschleunigten Atemzug bewirkt. Sein Bauch schmerzte nach der ungewohnten Anstrengung. Die kurze Zeit mit angezogenen Füßen über Elviras Schultern hatten ihn mehr Kraft gekostet als die ganze bisherige Kriecherei.
„Jetzt schnaufst du auch“, hörte er sie sagen.
„Mir bleibt die Anfechtung nicht erspart. Kein Grund, sich dafür zu schämen. Was wir hier treiben ist schließlich keine Kleinigkeit. Wir halten das zusammen aus. Kurzes Atmen hilft gegen die Angst. Es pumpt mehr Sauerstoff ins Blut. Trübe Gedanken kommen gar nicht auf. Am besten ist, du versuchst es gleich jetzt.“ Er dämpfte das Geräusch der eigenen Atemzüge und lauschte dem gepressten Hecheln hinter sich.
„Ich glaube schon, dass es ein bisschen wirkt.“
„Soll ich wieder das Licht anknipsen vor dem Start“?
„Nein, ich halte die Augen fest zugedrückt. Du hast es doch selbst empfohlen. So oder so, vor Dunkelheit habe ich nie Angst gehabt.“
Sie krochen schweigend weiter. Elvira beherzigte auch Hermanns zweiten Rat. Ihr hartes Keuchen, regelmäßig zwischen gespitzten Lippen herausgepresst, begleitete den Zug. Seine Gedanken galten nur ihr. Er ertappte sich bei einem Stoßgebet. Mochte ein gütiger Gott im Himmel ihr Nervenstärke geben die nächste Viertelstunde lang. Ein Bewußtsein für die Gefahr von Panikreaktionen war ihm nicht fremd. Bliebe Elvira stark, während der kurzen Zeit, die noch durchzuhalten war, dann würde diese Tour ihr gutes Ende finden.
Der Sand machte ein schwaches Schleifgeräusch unter dem um nur an der Vorderhälfte um eine Handbreite aufgestützten Bauch. Erschien der Ton ihr zu leise, steigerte sie die Geschwindigkeit bis sie einen der Füße vor ihr mit den Händen spüren konnte. Hermann sprach nicht. Das heftige Schnaufen hinter ihm zeigte an, Elvira hatte Tritt gefaßt. Nein, Tritt war falsch, sie stießen sich vor allem mit den Knien vorwärts. Noch einigen Minuten weiter so, dann wollte er sich wieder melden mit dem Vorschlag zu einer neuen Rast.
Elvira arbeitete sich wortlos voran. Für einen Blinden, ausgesetzt in unbekannter Umgebung, musste das Gefühl ähnlich sein. Er konnte nicht wissen, wie der Raum begrenzt war, in dem er sich bewegte. Aber ein Blinder stünde aufrecht auf seinen Beinen da und hatte die Freiheit zum Ausstrecken in jede Richtung, nicht nur nach vorn. Der Weg vor ihr war frei von Hindernissen, hatte Hermann gesagt. Auf Hermann war Verlaß. Jedes Hindernis räumte er beiseite, auch das was noch warten würde am Ende dieser endlos langen Röhre.
Seitlich und über ihr war Dunkelheit. Unbegrenztes Dunkel, das sie nicht schrecken konnte, niemals geschreckt hatte bisher. Sie würde sich in halber Trance weiter voran winden und erst haltmachen wenn Hermann eine Ruhepause brauchte, immer mit dieser wohltuenden Atemtechnik, die diese Angst von ihr nahm. Wenn diese Angst nicht wiederkehrte, war sie bereit, sich zu verausgaben bis zur völligen Erschöpfung. Dabei stellte sich diese Anforderung doch gar nicht. Das Ziel lag nah. Hatte Hermann nicht eben gesagt, die zwei drittel Marke sei jetzt überschritten? Nur noch die Hälfte der strecke vor ihnen, die hinter ihnen lag!
Wenn sie die Augen öffnete, würde sie Licht von außen sehen. Keine Beengung mehr dann, keine Verstellung mehr in die Rolle einer Blinden. Sie würde aufrecht stehen und sich beliebig strecken in jede Richtung ihrer. Wahl. Endlich würden die Arme wieder ausgebreitet und frische Luft zu atmen sein.
Solche Bilder waren über sie gekommen, entgegen dem Vorsatz sich frei von Gedanken ganz zu versenken in eine gleichgültige Dunkelheit. Aber die Steuerung der Bilder im Kopf lag außerhalb ihrer Macht. Nur schwach abgeschirmt, eilte die Phantasie zum Ziel voraus. Wieder erwachendes Bewußtsein der eingeengten Lage gab Elvira erneut Angstimpulse ein. Die Gier des Körpers nach ungehinderter Bewegung lebte wieder auf. Noch war es zu früh für das das Einfordern des selbstverständlichen Rechts auf freie Ausbreitung im Raum. Dieses Verlangen war stärker als alle Selbstkontrolle.
Der Anfall kam rasch und stark. Das regelmäßige Geräusch der kurzen Atemstöße blieb aus. Stattdessen hörte Hermann hinter sich eine Tonfolge ähnlich schlecht unterdrücktem Lachen. Der Luftstrom in Elviras Hals schwang in einem ihm fremden Stakkato. Er konnte nicht unterscheiden, war dem Atemschöpfen ein Lachen oder Weinen unterlegt.
„Alles in Ordnung, Liebes“, rief er in das Dunkel und wusste doch, dass wahrscheinlich nichts mehr in Ordnung war. Ein Klagelaut, dann:
„Hilfe Mann, Luft“, nicht gesprochen die drei Wörter, sondern schmerzvoll in das Hecheln eingeschoben. Er wiederholte seinen Rat, der anscheinend nur kurz geholfen hatte:
„Schließ´ die Augen, Elvira atme wieder so wie vorhin. Wir sind fast da. Vorne sieht man schon schwaches Licht.“ Er hatte dem ersehnten Anblick vorgegriffen in seiner Not.
Statt einer Antwort hörte er schluchzende Laute, einem schweren Keuchen unterlegt. Zugleich ein klopfendes Geräusch. Der Übergang vom Eindruck des Lächerlichen zu diesem Elend war zu klein. Er knipste entgegen seinem Vorsatz von vorhin die Lampe an und leuchtete hinter sich. Elvira lag seitlich gegen die Rohrwandung gelehnt. Sie schlug die Ellenbogen im kurzen Stößen gegen einen Widerstand, der keine Ausbreitung erlaubte. Der offene Mund und weit aufgerissene Augen entstellten ihr Gesicht. „Endlich, wir haben es geschafft, ich sehe Licht“ kam, wieder in atemloses Hecheln eingebettet.
„Beruhige dich, alles wird ja jetzt gut, in ganz kurzer Zeit“, gab er zurück.
Sie schien nicht zu verstehen. Nichts gab sie Hermann zurück als ein gequältes Stöhnen, das kein Ende zu nehmen schien und dann verstummte. Hermann erschrak noch mehr über die Verzweiflung in ihrer Stimme als schon beim Anblick der leidenden Gestalt. Ohne den Tod Anderer persönlich noch nie miterlebt. Doch glaubte er zu wissen, die schauderhafte Not der Todesangst drückte sich aus in einem solchen Schrei. Was half sein Mitleid Sein eigener Schmerz und die Erschütterung halfen ihr nicht heraus aus dieser Not. Sein Mitleid brachte ihr keine Linderung. Er hatte sie hierher geführt und war wohlauf, sie litt Höllenqualen. War es sein Verdienst, dass er Platzangst nicht kannte? Die Lasten ihrer gemeinsamen Unternehmung waren ungerecht verteilt. Der Fall, den er seit ihrer ersten Klage befürchtet hatte, war eingetreten. Wo nahmen sie Hilfe her in dieser Unterwelt? Er sprach ohne Unterbrechung weiter, beruhigend bildete Hermann sich ein. Elvira bewegte schwach die Lippen. Außer dem hechelnden Geräusch brachte sie keinen Laut heraus. Das Licht schadete womöglich nur. Zeigte die Rohrwand an und machte die Enge um sie herum noch deutlicher, als sie, auch ohne Beleuchtung, spürbar blieb.
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