1 ...7 8 9 11 12 13 ...19 Hermann erreichte zum zweiten mal das Röhrenende. Er kroch ins Freie. Warf sich wie vorher auf voller Länge in eine Mulde auf den Rücken. Immer noch umgab ihn ein heller warmer Sommerabend. So wie er das letzte Rohr verlassen hatte, ohne die Jacke auszuziehen, streckte er sich mit geschlossenen Augen aus. Er zitterte am ganzen Körper, so wie Elvira vor einer halben Stunde. Hermann Schrader fürchtete um seinen Verstand.
Seit einer Woche stand die Grenze offen. Ausweise wurden kaum mehr ernsthaft kontrolliert. Die argwöhnische Beschränkung des Grenzverkehrs war fast von einem auf den anderen Tag gefallen. Wer es einrichten konnte in der DDR, nutzte die neue Bewegungsfreiheit aus. Zahlreich schwärmten die Menschen aus zum ersten Besuch in Gebiete, die man ihnen lange Jahre vorenthalten hatte. In Eile trat man kleine Erkundungsfahrten an. Keiner konnte sich sicher sein, daß dem Sinneswandel in der Staatsspitze Dauer beschieden war.
Reisende berichteten über unglaubliche Großzügigkeit der Behörden beim Passieren ihrer Grenze West. Nicht nur neugierige Bürger der DDR, auch viele Menschen aus Westdeutschland nutzten die neue Freiheit zu einem Besuch im Nachbarstaat. Vorher hatte man ihnen den Besuch bei den Landsleuten im Osten absichtlich schwer gemacht. Der Nachweis einer Einladung, Zwangsumtausch in DDR-Mark, die Anmeldung am Zielort, all die ungewohnten Beschwernisse waren über Nacht gefallen.
Anscheinend hatte die Führung der DDR unter dem Druck der Vorgänge in Berlin und Leipzig einen Schwenk von früher scharfer Überwachung zu grenzvergessener Großzügigkeit vollzogen. Unfaßbar nachsichtig im Vergleich zu früher sei das Verfahren an den Kontrollstationen. Man reise völlig problemlos ein und ebenso wieder aus. Ein krasser Gegensatz zur Erfahrung des Wartens auf Abfertigung, so hatte sich das bürokratische Verfahren noch vor einer Woche genannt. Besucher der DDR kannten das Gefühl, Schikanen und Willkür ausgesetzt zu sein.
Hermann Schrader, 36 Jahre alt, Copilot der Frachtfluggesellschaft „Lineas Aereas Commerciales“ mit Firmensitz in San Jose, Costa Rica, brach unter den neuen Bedingungen auf zu einem Besuch der alten Heimat. Kein Mensch hatte verstanden, warum er so lange gewartet hatte. Immer hatte er zuvor als Grund Angst vor Verhaftung angegeben. Man hatte ihm nicht geglaubt, daß der Nachbarstaat nach dreizehn Jahren noch Vergeltung suchen würde. Die Bekannten hatten ihn einen Angsthasen genannt. Das Delikt Republikflucht sei für die Behörden drüben längst verjährt. Nach der Flucht aus der DDR vor dreizehn Jahren war spätestens jetzt ein Besuch überfällig.
Vorgänge von einiger Bedeutung hatten sich abgespielt vor ein paar Tagen. Das Wort von der historischen Tragweite schien vielen nicht zu hoch gegriffen. Grenzen hatten sich geöffnet, die man noch bis zuletzt als dauerhaft schwierige Hindernisse hingenommen hatte. Gleich am ersten Tag nach der Freigabe hätte er sich aufgemacht an seiner Stelle, hatte Rohrbach ihm gesagt.
Erst jetzt, als alle Welt schon gewöhnt war an den Anblick der Trabant-und Wartburg - PKW aus volkseigener Produktion auf westdeutschen Autobahnen, machte sich Hermann Schrader auf den Weg. Drei Tage hatte er frei. Keine Kleinigkeit, der Einbau dieser paar Tage in den Flugplan seiner Linie. Die Leute in der Europa-Zentrale hatten eigens die Personaleinteilung umdisponiert für den Nostalgie-Besuch. Die drei Tage waren nur dank Entgegenkommen der Kollegen frei geworden. Rohrbach und Teuner und Gundloff hatten es gut mit ihm gemeint und sich auf ein kompliziertes Tauschgeschäft ihrer Einsatztermine mit seinen eingelassen. Das Zeitfenster für ihn könne sich bei längerem Zuwarten sonst wieder schließen, hatten sie den Zögernden gemeinsam überzeugt. So hoch also war der Aufwand gewesen, damit Schrader die Zeit fand für den überfälligen Besuch der Heimat.
Rohrbach und Gundloff hatten freiwillig ihre Pausen zwischen zwei Einsätzen so verkürzt, so dass gerade noch die Mindestdauer nach IATA- Vorschrift eingehalten blieb. Teuner hatte einen Urlaub aufgeschoben. Klar, dass Schrader das in Ordnung bringen würde. Er war gut bedient mit der Hilfsbereitschaft und dem Zusammenhalt dieser drei. Schrader nahm sich nicht aus in diesen Eigenschaften. Die häufigen gemeinsamen Flüge hatten aus Kollegialität allmählich Kameradschaft werden lassen. In der Firma wurden sie inoffiziell als das deutsche Kleeblatt aufgeführt.
Schrader verdiente sein Brot als bei der Fluglinie Lineas Aereas Commerciales. Eine Gesellschaft ausschließlich für den Frachtverkehr über die lange Strecke. Die Flotte hatte sich aus bescheidenen Anfängen Jahre zurück inzwischen zum Umfang von fünf vierstrahligen Jets ausgedehnt. Das fliegende Gerät geriet nicht fabrikneu in den Bestand der Firma sondern wurde aufgekauft aus zweiter und dritter Hand, meistens aus Nordamerika. Schrader konnte aus eigener Sachkenntnis bestätigen, ihr Zustand war technisch einwandfrei. Einzeln hatte die Behörde für Flugsicherheit im Herkunftsland die vierstrahligen Jets sorgfältig inspiziert und ohne Einschränkung für den Frachtbetrieb freigegeben. Zwei Boeings waren für den Einsatz ausschließlich im Frachtverkehr ausgelegt, die anderen, Convair- Jets von älterem Semesters, hatte man vom Passagierflugzeug erst nachträglich zum Frachter umgebaut. Die vorgeschriebenen Haupt- und Zwischeninspektionen fanden wenn immer möglich jeweils in Spanien statt. Die Gesellschaft bediente Routen von Europa über den Atlantik nach Mittelamerika. Gelegentlich ergänzte man diese Stammrelation um Flüge nach Afrika und Fernost. Der Flugplan richtete sich nach dem Bedarf der Kundschaft. Die L.A.C. galt unter den Partnern im Geschäft als flexibel und nicht übermäßig konventionell. In Fragen der Sicherheit schätzte die Flugaufsicht sie zu Recht als verläßlich ein. Ein Prämiensystem stand als Grundlage hinter dem wirtschaftlichen Erfolg. Nach außen hin hielt man es sorgfältig verdeckt.
Das fliegende Personal nahm seine Arbeit ernst. Jederzeit war das Bewußtsein der großen Verantwortung in der Luftfahrt wach. Bei aller Anspannung im Cockpit blieb man aber im privaten Miteinander angenehm gelassen.
Vorschriften, die direkt die Sicherheit betrafen wurden streng überwacht und wurden schon im eigenen Interesse nicht angetastet, aber man war Erwerbsbetrieb. Erfolgreiches Wirtschaften rangierte gleich hinter der Sicherheit. Kein öffentlicher Haushalt käme für mögliche Verluste wegen überzogener Auslegung der Regeln auf. Die Linie beförderte letztlich nur Luftfracht, keine Menschen. Unnachsichtig eingehalten wurden von der L.A.C. aber alle Erfordernisse mit direktem Bezug zur Sicherheit. Die Aufsichtsbehörde verstand hier keinen Spaß. Wo die Lizenz ihrer Gesellschaft auf dem Spiel stand, endete jedes Schielen nach einer Prämie.
Nicht alle Vorschriften aus den Tiefen der Regelwerke für den Luftverkehr verdienten uneingeschränkt diesen Respekt. Manches war erkennbar nur Zumutung ohne sachlich überzeugenden Grund. Sie hatten die Kenntnis unzähliger Vorschriften schriftlich quittiert, natürlich. Aber bestand nicht auch Anspruch auf Spielraum für die Kompetenz eines erfahrenen Piloten? Es gab in seinem Beruf Verfahrensweisen und Entscheidungen abweichend vom Katalog der Vorschriften, deren schadlose Folgen er deutlich übersah. Wenig sinnloser Aufwand sich umgehen ließ in Bereichen, die der Behörde eigener Kontrollen nicht wert erschien. Hier setzte das Prämiensystem an. Schrader sah für sich in der Freiheit zur selbständigen Entscheidung ein Stück Emanzipation, das er sich schuldig war. Wo es vertretbar erschien, war er im Interesse des Ganzen bereit zum Kompromiß. Schließlich blieb er auch nicht an Fußgängerampel stehen bis das grüne Signal erschien. Er nahm nicht zu Unrecht an, die Kollegen hielten es ebenso.
Die Geschäftsleitung in San José ebenso wie die Europazentrale in einem Vorort von Frankfurt hätte jede Abweichung von der unbedingten Treue zum Regelwerk nach außen hin bestritten. Intern drückte sie die Augen zu. Die Eigentümer erwarteten zu Recht, daß man Grauzonen ausnutzte zum Wohl der Linie. Verborgene Reserven gehörten zugunsten der Wirtschaftlichkeit ausgeschöpft. Keiner verlor bei diesen Kunstgriffen, im Gegenteil. Die Linie profitierte. Die Flieger hatten sich ihre Prämien durch eigenständiges Entscheiden redlich verdient.
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