Inhaltsverzeichnis
1. Aufbruch 3
2. Im Ernteeinsatz 89
3. Schande in San José 157
4. Ein schmachvolles Komplott 193
5. Labiles Gleichgewicht 295
6. Spätfolgen 350
7. Treffen in Agua Dulce 437
8. Einsichten 491
9. Umkehr 504
Hermann fühlte sich unbehaglich. Er setzte den kleinen Rucksack ab und musterte Elvira. Sie verwahrte gerade sorgfältig das Schiffchen am Reißverschluß ihrer Hängetasche. Eben noch hatte sie gesagt, alles was gebraucht wurde bei dem Unternehmen, sei darin verstaut: der Ausweis, 280 Mark der Notenbank der DDR, ein paar Familienbilder, die Sommerjacke und Wäschezeug.
Sie standen unter den Zweigen der letzten Baumreihe vor dem breit abgeholzten Streifen. Nur drei halbhohe Büsche trennten sie vom Grasland vor dem Zaun. Schon im nächsten Sommer würden Sträucher
nicht mehr geduldet werden an diesem Ort. Man würde sie dann ebenso trimmen wie das andere Grünzeug, das zu hoch herauswuchs aus dem Niemandsland. An der Staatsgrenze West hatte das Blickfeld für die Grenztruppe frei zu sein
Die kleine Vertiefung im Boden der flachen Wiese versteckte sich unauffällig zwischen Sträuchern. Vor drei Tagen hatten sie einige Zeit lang suchen müssen ehe sie sich gefunden hatte. Das Land war unbebaut. Hohes Gras, am Rand des Grenzstreifens anscheinend seit dem Frühjahr nicht gemäht, schützte vor den Blicken der Grenztruppe, vorausgesetzt man kroch. Am Freitag waren sie zum ersten mal hier gewesen. Vom Waldrand aus waren sie die zwei Meter an die flache Kuhle herangerobbt Hatten sich nach einigem Suchen überzeugt: am Ende der kleinen Senke begann ein Rohr. Kein Deckel schloß das Ende ab; einzig mit Laub bedeckter Boden reichte bis knapp unter die Querschnittsmitte. Einen unauffällig halbmondförmigen Block hatten sie ausgemacht, als Teil eines Rohres hatte er sich nur in Bauchlage erkennen lassen. Jeder andere, der nicht aufmerksam suchte, hätte ihn für einen großen Stein gehalten. Hermann hatte Moder und Erde bis zum unteren Rand weggekratzt. Mit ihrer Taschenlampe hatte Elvira in das schwarze Loch hineingeleuchtet. Soweit der Lichtschein getragen hatte, war das Rohrinnere frei gewesen. Hermann hatte sich mit den Füßen voran hineingeschoben und den Hohlraum nicht allzu eng gefunden. Auch Elvira hatte Maß genommen, Kopf voran, und war einen Meter hineingekrochen. Das Rohr hatte ihr mehr Freiraum gelassen als Hermanns stämmiger Statur. Sie hatte die Hände zur Faust geballt und im Dunkel vor ihrem Gesicht den rechten Arm gegen den linken abgestützt. Beim Versuch, den Abstand zwischen den Fäusten zu vergrößern, war sie auf Widerstand der Rohrwandung gestoßen. Halb hatte sie sich schlangenhaft rückwärts bewegt, halb hatte Hermann sie herausgezogen und sich dabei mehr Handgreiflichkeit erlaubt als nötig gewesen wäre. Elvira hatte nicht ernsthaft protestiert. Sie hatten alle Mühe gehabt, nicht laut aufzulachen. Zwar hatten sie sich vorher überzeugt, daß die Luft sei rein war, aber hätte man sie an diesem Ort entdeckt, die Truppe zum Schutz der Landesgrenze hätte ihnen mit vielleicht wenig angenehmen Folgen die Vorbereitung einer Republikflucht unterstellt.
Der Bericht des Armin Schöppach war also keine Erfindung! Für die Entdecker unverständlich, dass anscheinend seit langer Zeit, keiner das Rohr zum Abhauen verwendet hatte!
Als sie beide wieder in der Kuhle lagen, vor sich die aufgeworfene Erde, über sich hohes Gras, hatten sie sich Arm in Arm auf dem Rücken ausgestreckt wie Kinder in der Frühlingssonne. Ganz nahe an dieser hartnäckig verschlossenen Grenze hatte sie ihrer Phantasie eine Ausschweifung erlaubt. Die Staatsgrenze West zum Greifen nahe! Bisher hatte sie sich gegen die Überquerung durch die Leute aus Engenthal hartnäckig gesperrt. Mit Hilfe der Röhre würde der Weg frei sein aus der Abgeschlossenheit in eine größere Welt.
Der Zeitpunkt für einen Wechsel auf die andere Seite wäre nicht schlecht gewählt, dachte Schrader. Elvira Hambach hatte den ersten Schritt ihrer Berufsausbildung hinter sich. Nach Abitur und Berufsausbildung war sie seit einem Vierteljahr Facharbeiterin im Apparatebau für Anwendungen in der Chemie. Der nächste Schritt im Kombinat führte zur Spezialistin für Plaste in Bau und Installation. Danach bestand Aussicht auf ein Studium zum Chemieingenieur, vorausgesetzt, sie bewährte sich in der Produktion.
Elvira war klar, ein Ausflug über die Grenze ohne Genehmigung taugte nicht zur Qualifikation für höhere Aufgaben in ihrem Staat. Gelang ihr Vorhaben, stand bei der Rückkehr Ärger an. Sie vertraute darauf, den war die Erfahrung wert.
Auch Schrader war sicher, er übersah die möglichen Folgen mit dem gesunden Sinn fürs Reale. Waren sie erst einmal drüben angelangt, würde Elvira das Weitere genauer überlegen. Wenn sie bei ihm blieb, verlagerten sich die nächsten Abschnitte ihrer Berufslaufbahn in das Land auf der Seite, die ihnen gegenüber lag.
Er versprach sich von der Unternehmung Aussicht auf Freiheit und mit etwas Glück auch auf den Einstieg in eine akzeptable Karriere im Beruf. Er wusste von einem seiner Kameraden, sein Studienabschluß in Maschinenbau galt etwas auch in der BRD. Der Kommilitone des Jahrgangs über ihm hatte sich nach Jugoslawien abgesetzt. Nur von einem Beinahe - Abschluß durfte er einstweilen reden, nahm man es genau. Das Diplom würde erst im Herbst überreicht. Eine Formsache noch, mehr nicht. Er wußte, die Abschlußarbeit war akzeptiert; die anstrengende Abschlußprüfung hatte er hinter sich gebracht. Er rief sich selbst zur Ordnung. Der Zeitpunkt eignete sich schlecht für eine Abschweifung in Zukunftsphantasien. Gefordert war zunächst Konzentration auf das Hier und Jetzt.
Elvira war das Risiko ebenso bewusst wie ihrem Gefährten dieser aufregenden letzten vierzehn Tage. Entdeckte man sie wider Erwarten hier, stand vielleicht auch mehr als nur schwerer Ärger an. Hermann bedeckte die aufgewühlte Erde so gut es eben ging wieder mit Gras. Die Flecke mit unbewachsenem Boden durften nicht größer als Maulwurfshügel sein, dann fielen sie niemandem auf. Der Startplatz ihrer Tour sollte dem Blick der Grenzsoldaten auf Patrouillenfahrt keinen Anlaß zur Suche geben.
Flüsternd hatten sie dann ihren Weg zurück in den Wald gefunden. Im Hochsommer bot er zuverlässig Schutz vor dem Blick der Wächter in ihren Jeeps. Gleich hinter dem breiten Waldstück hatten sie die Felder der LPG erreicht. Auf einer kleinen Anhöhe erhob sich der vormalige Hambach-Hof. Früher im Besitz der Familie Hambach, Elviras Elternhaus, jetzt einer der Stützpfeiler der LPG „Freies Land“.
Drei Tage zurück lag der Entschluß zu ihrer Unternehmung. Seitdem war viel geschehen. Jetzt Montagabend, nach Anbruch der Dunkelheit, im Spätsommer des Jahres 1976 kauerten die beide wieder in der Bodensenke. Elvira sah Hermann Schrader an, Unternehmungslust im Blick. In ihren wachen Augen schien der Glanz wie in den ersten Stunden mit ihr auf. Die Bekanntschaft war erst drei Wochen alt. Er wusste seine Freundin frei von Furcht, die für Mädchen ihres Alters sonst die Regel war. Am zweiten Tag ihrer Bekanntschaft hatte sie im Schwimmbad den Kopfsprung vom Sieben-Meter-Brett gewagt. Zurückstehen hatte sich verboten. Ungeübt in der scheinbar einfachen Disziplin, hatte er die Federung des Brettes falsch eingeschätzt und sich mit etwas zu viel Schwung halb überschlagen. Trotz schneidendem Schmerz hatte er Haltung bewahrt und hatte sich nach dem Auftauchen ein mühsames Grinsen abgequält. Der Rücken war noch am nächsten Tag krebsrot gewesen. Anders als die Kollegen seiner Truppe im Ernteeinsatz hatte sie nicht gelacht über den plumpen Sprung, jedenfalls nicht nach seinem Auftauchen an der Oberfläche, sondern Respekt gezeigt. Er hatte sie um Rat zur Sprungtechnik gebeten und sie hatte ihm ihre Methode anvertraut. Man müsse das Gesicht gleich beim Absprung schräg hoch weit nach vorne recken. Hüftknick und Flugbahn ergebe sich dann mit instinktiver Selbstverständlichkeit von selbst. Er beherrschte die Übung seitdem besser als irgendein anderer männlicher Bewohner ihres Einsatzortes zur Ernteschlacht in Engenlohe.
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