Drei Tage alt war sein und Elviras Beschluß zum Grenzübergang im Rohr. Grenzuntergang hatte sie ihn verbessert. Natürlich wünschten sich viele den Untergang dieser unseligen Sperre, zumindest eine mit mehr Durchlässigkeit. Mit Sinn für real Mögliche betrachtet, würde diese Grenze auf Generationen hin nicht untergehen. Unterquert mußte sie sein wenn sich für sie und Hermann ein besserer Weg nicht fand.
Sie probten jetzt nicht mehr, es wurde ernst. Hermann erinnerte sich wieder an das Unbehagen vor seinem ersten Sprung vom Brett im Schwimmbad von Engenlohe Er gab sich einen Ruck:
„Also wie abgemacht, ich vorneweg, du hinterher. Glückauf“.
Die Stimme klang rauher als gewohnt. Er verspürte Beklommenheit wie vor der Prüfungskommission der Hochschule für Maschinenbau. Die letzte Prüfung dort lag jetzt sechs Wochen zurück. Das unbehagliche Bewußtsein von Wissenslücken stellte sich wieder ein. Ohne den Mut zur Lücke war nicht auszukommen in seinem Fach. Wenn einer der Professoren darauf abzielte, legte man ihn mit Leichtigkeit aufs Kreuz.
Ungute Gefühle wollten ausgehalten sein! Damals die Erwartung eines Kreuzverhörs in seinem Fach, jetzt die Aussicht auf einen Kriechgang ins teilweise Ungewisse. Die Nähe Elviras machte den großen Unterschied. Wenn die Sache hinter ihnen lag, würden sie auf der Sonnenseite angekommen sein. Mit ihr zusammen stand die Welt weit offen. Vorher hieß es diese elende Röhre zu durchqueren.
Er spürte in sich kein Talent zum Kriecher. Trotzdem führte an einer Übung in kriechender Haltung jetzt kein Weg vorbei. Als mündliche Prüfungsfächer hatte man ihm vor sechs Wochen Physik und ML zugemutet. Warum befragte man ihn, Hermann Schrader zu den Grundlagen des Marxismus - Leninismus? Seine reservierte Einstellung zu dem Thema war den Dozenten bekannt. Würde der Mann ihm einen weiteren Kotau abfordern oder erkannte man auf Gnade? Alles war dann besser als erwartet glatt gelaufen. Der Dozent in ML hatte sich mit Tiraden in der Abschlußprüfung weiter zurückgehalten als von ihm sonst gewohnt. Vielleicht hatte der Einfluß der Beisitzer in der Kommission mäßigend gewirkt.
Er wischte die Erinnerung weg, band sich seinen Rucksack an den rechten Fuß und nahm die Schaufel zur Hand. Sie diente daheim bei Elviras Eltern sonst zur Befeuerung des Kohleofens. Nicht der größte Verlust für den alten Hambach an diesem Tag, dachte er, ohne Zynismus in dem Gedanken zu erkennen. Lang ausgestreckt, verspürte er den kühlen Erdboden am Bauch. Er verschränkte die Arme vorm Kinn und begann die eingeübte Kriechbewegung. So hatten sie es gestern und vorgestern abends in der Dämmerung geübt. Trainingsgelände war die große Wiese hinter dem Stall gewesen. Sie erstreckte sich bis zum Zugang zu Schöppachs morscher Scheune. Zuletzt hatten sie die hundert Meter von der Scheunenwand bis zum Zaun am Feldweg nach Engenthal in sieben Minuten geschafft. Nach einer Ruhepause hatte sie der Rückweg auf gleiche Weise acht Minuten ungewohnte Anstrengung gekostet. Ermüdend und alles andere als Kurzweil diese Übung, aber kein Kunststück, der gesunde Leute in ihrem Alter vor Probleme stellte. Wäre jemand Zeuge des Vorganges geworden, er hätte sich gefragt, ob den beiden kein besserer Zeitvertreib für den schönen Sommerabend eingefallen war.
Die Übung waren unentdeckt geblieben. Keiner hatte den beiden neugierig verfolgt nach der Abmeldung vom gemeinsamen Abendessen. Die Geschwister und Hambach Senior hatte wohl angenommen, die beiden machten einen Besuch bei Schöppach wie schon öfter seit Schraders Auftauchen an Elviras Seite. Wenn nicht, so würden sie am besten wissen, wie der schöne Abend zu verbringen war. Letztlich hatten beide die Volljährigkeit erreicht. An ihrem Staat, der DDR, war seit der Gründung vieles auszusetzen und verbessernswert. Der Vorwurf von Lustfeindlichkeit gegenüber den Bedürfnissen auch jugendlicher Bürger traf ihn nicht, eine Feststellung die anscheinend auch für den Bewußtseinsstand in der Familie Hambach galt.
Sie hatte den Zeitablauf überschlagen: etwa zweihundert Meter breit war der Streifen insgesamt, etwa mittig darauf verlief der Zaun, davor der befestigte Kolonnenweg für die Jeeps. Die Soldaten hatten irgendwann früher einmal erwähnt, der Zaun stehe nicht genau auf der Grenze sondern mehrere Meter tief auf DDR-Gebiet.
Das Ende der Röhre auf der anderen Seite blieb ihnen unsichtbar. Das Minenhuhn war am Vormittag drüben in einer Baumgruppe aufgetaucht, die vom Zaun nicht weiter weg stand als geschätzte hundertfünfzig Meter. Dreihundert Meter höchstens, hatte Schöppach gemeint, eher weniger. Die Strecke ließ sich in einer halben Stunde schaffen. Auch der Rückzug war ihnen nicht verbaut im Fall unerwarteter Hindernisse. Das Tempo im Rückwärtsgang wäre freilich höchstens halb so hoch, dafür ginge es dann aber auch nur um einen Teil der Strecke.
Hermann hatte auf die Probe mit dem Huhn bestanden. Das Tier hatte erfolgreich ihren Weg vorab erkundet. Man würde auf die Rückwärtsgang nicht angewiesen sein. Länger als zwanzig Minuten war nicht zu veranschlagen für die Ost-West-Passage. Selbst bei Anrechnung einiger Ruhepausen war der Transit in längstens einer halben Stunde ausgestanden.
Was zählte eine halbe Stunde im Dreck gegen die Verlockung, sich einmal im Nachbarstaat umzutun?
Glücklicherweise lag nennenswerter Regen mindestens zehn Tage zurück. Ihre Lage im Rohr wäre sonst weniger gemütlich. Das Wetter konnte nicht besser sein für die Unternehmung ebenso wie für die Ernteschlacht. Bei Einholung der Rüben und des Getreides lag die LPG „Freies Land“ gut im Plan, wenn nicht sogar dem Plan voraus. Der Vorsitzende der LPG hatte sich auf Nachfrage nicht klar ausgedrückt. Vielleicht fürchtete er die Abordnung seiner Leute zur Aushilfe bei den Nachbarn nach außerhalb.
Man hatte Hermann bald nach der Ankunft bei den Leuten von Engenthal beachtlichen Respekt gezollt. Gleich wie spät die Traktoren und der Drescher abends vom Feld zurück gekommen waren, er hatte zusammen mit dem Zimmergenossen Roland seinen Part getan. Jeweils zu Schichtbeginn am nächsten Morgen war das Geschirr betriebsbereit gewesen. Nur wenige Maschinen waren neu, manche stammten noch aus der Vorkriegszeit. Traten Schäden auf, waren sie rechtzeitig auszubessern so gut es die Versorgungslage zuließ. Ersatzteile waren Mangelware. Erfindungsgeist war gefragt und die Maschinisten und ihre Helfern improvisierten mit Erfolg. So hatte man noch jedes mal für den Folgetag den vollen Einsatz in der Ernteschlacht gesichert.
Die LPG lag anscheinend so gut im Plan, dass die Verlegung einer Kolonne in die Nachbar - LPG erwogen wurde. Damit drohte Hermann die Trennung von Elvira und Engenthal. Allein schon deshalb war jetzt keine Zeit mehr zu verlieren.
Sie arbeiteten sich voran in die kühle Finsternis. Elvira hatte es Hermann gleichgetan. Sie schleifte ihren Rucksack, angebunden am Fuß, hinter sich her. Hatte vor dem Eintauchen ins Rohr zum Schutz der Haare eine Mütze aufgesetzt. Beide trugen sie Handschuhe und lange Hosen, am Fuß zugebunden als Schutz vor Kleingetier, das sie vielleicht auf ihrem Weg begleiten würde.
Hermann Schrader kroch in unnatürlicher Bewegung vor Elvira her. Schlängelte er sich? Elvira fühlte sich eher an einen Lurch erinnert als an eine Schlange. Den Stoffbeutel stieß er mit den Füßen regelmäßig abwechselnd rechts und links seitlich gegen die Röhrenwand.
Das enge Rohr erlaubte Hermann Schrader kaum mehr als den Blick schräg zurück zu seiner Gefährtin. Beim Aufstützen der Ellenbogen lagen die Hände nur knapp unter der Rohrinnenseite über seinem Kopf. Der Freiraum in der Waagerechten war nur um einige Handbreit weniger eng bemessen. Es konnte nicht anders sein. Der Kanal führte in Regenzeiten schließlich Wasser. Schlamm hatte sich abgesetzt und war getrocknet. Über der Rohrsohle war die freie Höhe eingeschränkt durch Ablagerungen, wahrscheinlich schon seit einer Zeit, in der noch kein Mensch eine Grenze hier für möglich gehalten hatte.
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