Es hatte einen naheliegenden Verdacht gegeben. Das Verschwinden der jungen Bürgerin fiel zusammen mit dem eines der Erntehelfer der Hochschule Leipzig. Auch der war unauffindbar gewesen seit jenem Tag. Nachforschung bei den Eltern des Erntehelfers Schrader hatten nicht weit geführt. Man hatte sie vernommen mit dem Ergebnis, der Sohn Georg Hermann sei von einem Ernteeinsatz nicht zurückgekehrt. Weder bei den Eltern noch am Ort seiner eben erst abgeschlossenen Studien als Maschinenbauer sei er aufgetaucht. Man sei in größter Sorge über den Verbleib. Unter diesen Umständen drängte sich der Verdacht von Republikflucht auf.
Der Vorfall hatte den Anlaß für internen Behördenstreit geliefert. Der Einsatz des Schrader habe gegen eines Anweisung aus Berlin verstoßen. Schon vor Jahren habe man vom Ernteeinsatz in Grenznähe für einzelne Personengruppen ausdrücklich abgeraten. Bedenken bestanden u. a. gegen „Helfer mit nicht nachweislich gefestigter Treue zum Arbeiter- und Bauern- Staat“ und „grundsätzlich gegen Studenten- und Personen kurz vor- oder nach Abschluß in ihrem Ausbildungsgang“.
Die Staatssicherheit hatte Schraders Eltern mit wenig Freundlichkeit behandelt. Der Verdacht der Mitwisserschaft lag zu nah. Barsch waren sie zur Vorsprache ins Präsidium geladen worden, Schraders Mutter berichtete später, einer Behandlung wie bei Verbrechern habe sie sich ausgesetzt gefühlt. Anschließend hatte sich die Vernehmung noch zweimal wiederholt, ehe die Stasi Ruhe gegeben habe.
Die Kenntnis der Fluchtabsicht des Sohnes war nicht beweisbar. Mehr als den Personalausweis habe er anscheinend nicht mitgeführt zum Arbeitseinsatz. Auch etwas Geld auf seinem Konto sei noch da. Die Eltern seien selbst aufs äußerste beunruhigt über ausbleibende Nachrichten von ihrem Sohn. Seit Mitte August?? habe er sich nicht gemeldet. Selbstverständlich werde der Behörde das erste ersehntes Lebenszeichen gleich welchen Inhalts unverzüglich mitgeteilt
Dem Amt genügte diese Auskunft für einen Bescheid an den Rat der Stadt Engenthal, der Vermißte sei vermutlich flüchtig. Viel spreche für den Verdacht auf illegalen Grenzübertritt zur Flucht aus der DDR. Über den derzeitigen Aufenthaltsort ihres Sohnes wüßten die Eltern angeblich nichts oder sie gäben ihn nicht preis. Vom Verhältnis des Schrader zu einer Elvira Hambach sei den Eltern nichts bekannt.
Die Nachforschung und die schriftliche Übermittlung des Resultats hatte zwei Monate beansprucht. Man gab sich bei der STASI mit dem dürftigen Ergebnis zufrieden mangels mehr an greifbarer Substanz. Die Ermittler erlebten sich auch in diesem Fall wieder als leidgeprüft und machtlos. Natürlich waren diese Republikfluchten ein chronisches Problem. Diese hier aber ein Sonderfall was den Ort der Tat anging, zudem auch noch rätselhaft: die Überprüfung hatte ergeben: nichts Ungewöhnliches hatte sich zugetragen im Grenzabschnitt Engenthal im Zeitraum, der infrage kam. Die meisten jungen Burschen wählten als Weg aus dem Staat einen Urlaubsaufenthalt nahe der Grenze zu Jugoslawien und setzten sich dann ab. meistens auch ohne Begleiterin.
Die Akte wurde bis auf Weiteres geschlossen. Die Organe der Grenzsicherung hätten sich brennend für den Fluchtweg interessiert, hätte man die Beiden denn erwischt. Da sie nun einmal heraus waren aus dem Staatsgebiet, sah die Bürokratie der DDR keinen Anlaß zu stärkerem Engagement. Allgemein war bekannt, dass die Kollegen von jenseits der Grenze sich zugeknöpft zeigen mußten wenn es um Auskünfte zu Fluchtversuchen ging. So hatte man sich, nicht ohne das Gefühl der Frustration, mit diesem Stand zufrieden geben müssen.
Die Nachforschung hätte womöglich weiter geführt, hätten die Verwandten in Offenbach sich nicht der Bitte Schraders um Diskretion gefügt. Die STASI hatte schließlich auch im Westen ihre Leute. Man brächte seine Eltern unnötig in Gefahr durch eine Angabe über seinen Aufenthalt. Er selbst werde sich selbst um die Unterrichtung der Eltern kümmern, hatte er verlangt. Die Verwandten waren kopfschüttelnd dem Wunsch gefolgt. Der Großneffe wirkte auch nach seiner Entlassung aus der Klinik nach wie vor überspannt, nicht nur in diesem Punkt. Ebenso erstaunt hatte man später hingenommen, Georg Hermanns Mitteilungen an an die Eltern liefen über einen Freund in Dresden. In Beuchenroda sei man jetzt im Bilde über seine Flucht und die wohlbehaltene Ankunft in der BRD. Doch habe er auch die Eltern verpflichtet, in der Korrespondenz keinen Gebrauch davon zu machen. Die STASI zeige Interesse an den Briefen zwischen Ost und West. Bekanntlich überprüfe sie nicht nur eingehende Post an verdächtige Personen sondern auch ausgehende Briefe vor dem Versand. Das Briefgeheimnis sei für Eingeweihte ein Gegenstand von Hohn und Spott. Die Eltern ständen als Angehörige unter dem dringenden Verdacht der Beihilfe zur Flucht aus der Republik.
Evelyns Eltern hatten sich gewundert. Sollte die eigene Einschätzung der Verhältnisse drüben so fehlgegangen sein? Die schlimmsten Jahre der Repression und des Kalten Krieges waren schließlich Vergangenheit. Noch mehr Verwunderung hatten besorgte Briefe aus Beuchenroda ausgelöst.
Wenn zutraf, was Hermann sagte, war die Sorge um den einzigen Sohn der Schraders stark aufgetragen, so echt klang die Bekümmernis. Die Mitwirkung der längst informierten Eltern schoß über das Ziel hinaus. Schraders Verwandtschaft feixte insgeheim, er nähme die Gefährdung viel zu ernst. Keinem Staat, der auf sich hielte, wäre ein untreuer Student soviel Aufwand an Spionage wert. Der konspirative Aufwand für die Korrespondenz sei weit übertrieben. Unverständlich, daß die Eltern drüben mittaten bei diesem Spiel. Man fügte sich nur kopfschüttelnd der geforderten Geheimniskrämerei. Tatsächlich waren die besorgten Eltern ohne Nachricht geblieben bis Schrader selbst nach einem halben Jahr das Schweigen gebrochen hatte.
Einen Ansatz immerhin nahm er für sich in Anspruch: er empfand den Gang nach Engenthal als Versuch der Buße für schwere Schuld. Es war nicht bloße Neugier, die ihn trieb. Schrader verließ auf der ersten Abfahrt hinter Eisenach die Autobahn. Er fuhr ein kleines Stück nach Nordosten über eine schmale Straße. Für Mitte November trugen die Bäume noch viel buntes Laub. Kein Zweifel, die Gegend zeigte landschaftlichen Reiz. Weniger Neubauten als auf der hessischen Seite, fast alle Häuser stammten aus der Vorkriegszeit! Wirkten dabei aber auf Schrader in Material und Farbe der Landschaft wohltuend angepasst. Wie es drinnen aussah, stand auf einem andern Blatt. Für ein Urteil darüber ging ihm jedes Interesse ab. Auf diese Dinge hatte als Junggeselle er nie viel Wert gelegt. Wenigstens was die Lage der Wirtschaft betraf, malten die Berichte in fast allen Medien schwarz in schwarz.
War die Republik so heruntergekommen seit er weggegangen war oder zogen die Medien zu Unrecht die Lebensverhältnisse hier in den Dreck? Die Erinnerung malte ihm ein freundliches Bild der Welt in seinen jungen Jahren. In den Schilderungen, gleich ob gedruckt oder vom Fernsehen verbreitet in den letzten Tagen seit die Grenze offen war, beschrie man unaufhörlich nahezu alles und jedes im Osten als sanierungsbedürftig und marode. Er war sehr lange abwesend gewesen. Es wurde Zeit, er machte sich wieder ein eigenes Bild.
Zum ersten mal tauchte Engenthal auf einem Verkehrsschild auf. Er hielt das aus. Die schreckliche Geschichte war nicht bewältigt, ehe er an Elviras Grab gestanden hatte. Soviel Psychologie zählte man inzwischen zum Gemeingut. Ohne dass die Schuld sich ständig im Vordergrund des Bewußtseins aufhielt, fraß dieses Elend aus der Vergangenheit an seiner Kraft. Gerade vorhin war es wieder aufgetaucht durch die Stimme der Nachbarin am Tisch. Er musste endlich frei werden von dieser Last. Die Auseinandersetzung mit dem Ort des gemeinsamen Verhängnisses mußte ausgetragen sein.
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