1 ...6 7 8 10 11 12 ...22 “Der Mann braucht noch die Tetanusspritze”, ordnete sie an. “Du von mir hören”, sagte der Offizier und verschwand mit dem Patienten, der ein “Ótschen spassíbo!” [ vielen Dank! ] sagte, und den anderen Soldaten und fuhr im offenen Jeep davon. Anna Friederike wusch die Instrumente, die Nierenschale und die kleine Schale, aus der sie den restlichen Wodka ins Becken goss, trocknete Instrumente und Schalen mit einem kleinen, weißen Tuch und räumte sie in den Glasschrank zurück. Dann warf sie die verschmierten Tücher ins wassergefüllte Becken, säuberte den OP-Tisch und den Boden, wischte die Blutspur von den Fluren und Stufen der Außentreppe, schloss die Tür des OP-Raumes und den Flügel der hohen Flurtür zur Klinik, an dem das Schloss aufgebrochen war. Sie ging in ihr Zimmer zurück, in dem Angelika auf sie wartete, und erzählte ihr die Geschichte der getätigten Wundchirurgie von Anfang bis Ende.
“Ich hatte einen Bammel”, sagte Anna Friederike, “denn das habe ich noch nie gemacht.” “Aber zugesehen hast du doch, wenn der Arzt eine Wunde vernähte”, meinte Angelika. Anna Friederike: “Ja, das habe ich; aber selber machen, das ist etwas ganz anderes. Doch dann, als ich erkannte, dass es keine spritzende, sondern eine venöse Blutung war, die zum Stehen kam, als der Soldat das zur Staubinde zusammengerollte Tuch entfernte, das um den Oberarm fest angezogen war, da war ich sogar stolz auf mich. Der Notfall weckt eine Intelligenz, von der man vorher nichts weiß. Der Offizier klopfte mir auf die Schulter und sagte: ‘Nemjétskij Dokter, gut Dokter’. Weißt Du, was ‘Nemjétskij’ heißt?”, fragte Angelika. “Nein, das weiß ich nicht. Das Russisch müssen wir noch lernen. Da stehen wir vor dem Anfang”, sagte sie. Anna Friederike meinte nach dem unerwarteten Erfolg, dass der Beruf des Chirurgen ein schöner Beruf sei, weil man dem Patienten wirklich helfen kann, wenn man als Arzt das Wissen hat und das Problem erkennt. “Natürlich sind geschickte Hände vonnöten, um dann das Problem auch zu lösen”, ergänzte Angelika. Sie vertünde nun, warum Paul Gerhard, ihr verschollener Bruder, Chirurg werden wollte. Er hatte das Herz für den leidenden Menschen und hatte die Intelligenz und manuelle Geschicklichkeit für diesen Beruf gehabt, sagte Anna Friederike.
Am nächsten Morgen klopfte es gegen elf an die Tür. Die Klopfschläge waren nicht so hart wie am Tag davor. Auch diesmal bat Angelika die Freundin, die Tür zu öffnen. Anna Friederike drehte den Schlüssel um und öffnete die Tür. Vor ihr stand der hochgewachsene Offizier: “Nemjétskij Dokter, gute Tag!” Sie grüßte zurück, und er lachte sie an. “Wie geht es dem Soldaten?” “Arbeit von Dokter gut, Soldat gut.” Der Offizier überreichte eine Hartwurst von ansehnlicher Länge und eine Flasche Wodka. “Kommandant dich sehen heute abend!”, sagte er bestimmt. Anna Friederike verstand nicht, was er meinte: “Ist Kommandant krank?”, fragte sie, um den Sinn herauszufinden. “Kommandant nicht krank; Kommandant gesund und stark. Kommandant nicht kommen. Du kommen nach Kommandant.” Anna Friederike sagte dem Offizier, dass sie Angelika nicht allein lassen wolle, nachdem sie beide vergewaltigt worden waren. Der Offizier verstand es nicht. Anna Friederike erklärte es mit Geduld und Zeichensprache: “Vier Soldaten kamen ins Zimmer, ließen die Hosen runter und bumsten wie wilde Reiter; zwei Soldaten hintereinander auf mir, zwei Soldaten auf Angelika. Der Offizier schien es verstanden zu haben und machte ein ernstes Gesicht: “Nasílowatch. Wir Soldaten finden und bestrafen.” Sie zeigte auf Angelika und auf den Boden des schmalen Flurs, auf dem sie vergewaltigt wurden. “Ich Kommandant sagen und wiederkommen.” Der Offizier ging die Treppe herunter, auf der sein Adjutant wartete. Er sprach in energischem Ton bis zum Ausgang, von dem Anna Friederike und Angelika kein Wort verstanden, und legte die Haustür nicht laut, aber auch nicht leise ins Schloss und fuhr mit dem Jeep, den Adjutanten auf dem Nebensitz, zur Kommandantur zurück. Anna Friederike und Angelika machten sich über das Brot und die Hartwurst her. Sie aßen mit Heißhunger, der sie mit Beginn der neuen, der russischen Zeit befallen hatte, weil da Tage waren, an denen es nichts zu essen gab.
Sie waren noch mit dem Essen beschäftigt, Anna Friederike hatte die Blechkanne mit dem aufgebrühten Brennnesseltee in der Hand, als sie aus der kleinen Küche am anderen Flurende kam und der Offizier ihr vor ihrer Zimmertür gegenübertrat. “Ich sprechen mit Kommandant. Kommandant sagen, Dokter mit Angelika kommen. Ich dich und Angelika fahren mit Auto von Kommandant. Ich kommen um..”, der Offizier zeigte auf seine Armbanduhr, ein deutsches Fabrikat, und bewegte den Zeigefinger zwischen sieben und acht Uhr hin und her. Als er schon die ersten Stufen treppabwärts genommen hatte, sagte er: “Nemjétskij Dokter, schöne Frau. Ich dich bringen nach Kommandant.” Der Adjutant hatte auf dem Nebensitz des Jeeps gewartet. Der Offizier schwang sich auf seinen Sitz, so sah es Anna Friederike vom Dachfenster aus, drehte mit Vollgas das Vehikel auf der Straße, dass die Reifen quietschten, und brauste zur Kommandantur zurück.
“Was sollen wir anziehen?”, fragte Angelika. “Was wir haben. Eine große Auswahl haben wir nicht”, antwortete Anna Friederike. Sie sahen ihre paar Kleider gemeinsam durch, wählten sie gemeinsam aus, vernähten eingerissene Säume und bügelten sie auf der Wolldecke, die sie halb geöffnet auf dem Boden ausgelegt hatten. Ein großer Staat war mit diesen handgeschneiderten Kleidern nicht zu machen. Doch es war Krieg, der für Kleidung keine große Auswahl ließ. Da galt das Motto: aus zwei mach eins, aus zwei alten Kleidern, meist aus Mutters Schrank, ein neues Kleid. Mit den Schuhen war es nicht besser. Man war froh, wenn es noch ein Paar Lederschuhe waren. Sie wurden geflickt, besohlt, mit Absätzen versehen und gewienert. Lederschuhe wurden wie große Kostbarkeiten getragen. Die Fingernägel reichten nicht mehr über die Fingerkuppen hinaus; sie hatten sich den Händen angeglichen, die sich durch die Kriegsjahre “gewühlt” hatten. Da gab es nicht mehr viel herumzuschneiden. Nach einem Handbad im lauwarmen Wasser wurden die Nägel mit einem Wolltuch poliert, so gut da noch etwas zu polieren war. Zum Lackieren fehlte der Lack. Der Lippenstiftstummel wurde geteilt und dünn über die vier Lippen gezogen. Aus dem Fläschchen ‘Kölnisch Wasser’ wurden die letzten Tropfen “rausgequetscht” und tröpchenweise auf zwei Gesichter verteilt. Es war eine Prozedur, sich herauszuputzen, wo es nicht viel zum Putzen gab. Die Kleider- und Make-up-Probe vor dem kleinen Spiegel über dem Waschbecken im engen Bad unter dem schrägen Dach fiel daher nicht aufregend, auch nicht ungewöhnlich aus, weil man sich durch die Jahre an das Viele, was es nicht gab, so sehr gewöhnt hatte, dass es seine Ordnung hatte, wenn zum hellbunten, knielangen Frühlingskleid dunkelbraune oder gar schwarze Schuhe mit breiten Absätzen getragen wurden, wie sie schon die Großmütter zu ihren offiziellen Anlässen getragen hatten, und wenn es zu deren Schulabschlüssen von Anno Tobak war.
Sie hatten die Handtücher noch wie riesige Turbane um ihre Köpfe gewickelt, als eine dunkelblaue Limousine vorfuhr. Die Eingangstür schlug ins Schloss, und Füße stiegen im resoluten Männerschritt die Treppenstufen nach oben. “Moment!”, rief Anna Friederike aus dem kleinen Zimmer durch die angelehnte Tür, an die der Offizier in manierlicher Weise geklopft hatte. In Eile frottierten sich Anna Friederike und Angelika gegenseitig das Nass aus den Haaren. Es dauerte und dauerte. “Ich warten unten”, sagte der Offizier; “Ist in Ordnung”, sagte Anna Friederike. Er ging die Treppe herunter. Das Klackgeräusch beim Schließen der hohen Haustür war nicht zu hören. Die beiden Frauen waren mit ihren Haaren vollauf beschäftigt. Doch der Offizier ließ ihnen Zeit. Er war ein Mann von Bildung, der wusste, wie lange Frauen brauchen, wenn es um ihre Haare geht. Anna Friederike hatte die Zimmertür abgeschlossen, als beide die Treppe herunter kamen. Der Offizier hatte im Flur des erhöhten Erdgeschosses gewartet. Er sah den zwei Frauen entgegen, wie sie die letzten Stufen nach unten nahmen. “Dóbrü wétscher!”, sagte er mit einem Lächeln auf den Lippen. “Guten Abend!”, sagten die beiden, ohne zu wissen, dass sie dasselbe in ihrer Sprache sagten wie der Offizier in seiner.
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