“Der Krieg wurde verloren, und die deutsche Kultur brach vom einstigen Hochstand herab und in Stücke. Dann kamen die anderen und hielten uns den Spiegel unserer Taten in all den Jahren vor Augen. Da klaffte der Spalt zwischen Größe und Gemeinheit, zwischen deutscher Empfindsamkeit und barbarischer Brutalität, zwischen deutschem Soll und Haben, der sich mit einfachen Worten nicht erklären und auch nicht füllen lässt.” Töpfer sagte: “Würden die Deutschen die Sieger sein, sie würden weiter zu ihren Gräueltaten schweigen. Sie würden totschweigen, was sie getan haben, würden es aber brandmarken, wenn es die anderen getan hätten. Das ist die Gewissenlosigkeit, mit der der Moloch der Grausamkeit aus dem Spalt steigt, dem millionenfach der Opportunismus nachlief, der blind für die Gequälten und taub für die Folter- und Kinderschreie war. Wie gesagt, die Einsicht in die Dimensionen der großen deutschen Kultur wurde verbrüllt und verjagt, als die Staatsführung auf die Bildungslosigkeit setzte. Die Einsicht hinterher kam zu spät. Der Krug war zerbrochen, Breslau mit seinen fleißigen Menschen und die deutschen Ostgebiete gingen verloren. Die großen Städte waren zerbombt. Was sollte da noch zu retten sein?”
Der Verlust war unwiederbringlich und ging an die Nieren. Da wischte sich Luise Agnes Dorfbrunner, die Ehefrau des Breslauer Superintendenten, mit der Hand über die verweinten Augen, und Anna Friederike, die Tochter, schaute herab, während die Bäuerin Dorfbrunner ein ernstes Gesicht machte, Eckart, ihr Sohn, sich räusperte, und der Namensvetter mit Hemd und offenem Kragen sich die Zigarette anzündete.
Es war wenige Tage vor Kriegsende, als der Obersturmführer eine Rauchspirale in die Luft blies und dem Kirchen-Vetter erwiderte: “Nun hast du uns eine ernste Predigt gehalten, sag, was hat die Kirche denn getan, um der Bildungslosigkeit, wie du es nennst, entgegenzuwirken? Hat sie nicht kläglich versagt?” Eckhard Hieronymus machte ein nachdenkliches Gesicht: “Ja, auch die Kirche hat versagt, ich muss es bekennen. Sie hätte weniger versagt, wenn ihr die Möglichkeit geblieben wäre, die Wahrheit zu sagen, warum es mit dem Glauben und der Achtung vor Gott und den Menschen schlecht bestellt war, wenn nicht so viele Pastöre von den Kanzeln herunter und aus anderen Diensten an der Gemeinde weggeholt, von der Gestapo verhört, gefoltert und schließlich in die Arbeitslager verschleppt worden wären. Der Moloch der Gemeinheit machte kein Pardon, er griff zu und riss heraus, was ihm nicht passte. Sag du, wie sich die Kirche hätte wehren und verwahren sollen.”
Darauf sagte der Namensvetter: “Ich gebe zu, dass ihr Kirchenmänner einen schweren Stand habt in einem System, das den Führer und nicht Gott an der Spitze hat. Wie hast du doch beim Mittagessen gesagt, als du Sokrates zitiertest?…” Eckhard Hieronymus: “ Niemand sei seines Lebens sicher, der der Volksmasse offen und ehrlich begegnet. Daher müsse der, wer ein Kämpfer für das Rechte sein und trotzdem eine kurze Zeit am Leben bleiben wolle, sich auf den Verkehr mit den Einzelnen beschränken .” Das hat Sokrates in seiner Apologie im Prozess gesagt, der ihm von der Demokratie in Athen wegen der angeblichen Gottlosigkeit gemacht wurde.” Der Namensvetter erwiderte: “Ich gebe weiter zu, dass sich die Kirche auch nicht bei dem Einzelnen aufhalten kann, sondern ihre Tätigkeit auf die Masse des Volkes ausrichtet. Aber sie hätte am Anfang, als das Lebensrisiko für den Kirchenmann noch nicht bestand oder nur gering war, ihren Mund klar und deutlich auftun sollen. Dann, davon bin ich überzeugt, wären viele Dinge anders gelaufen. Sieh doch, wie das Papstwort auf den Führer eingeschlagen hat, dass es mit den Euthanasien aufhörte. Was ich meine, ist, dass das klare Wort am Anfang nicht gesprochen, sondern sich in geschwollenen Phrasen ergangen wurde. Doch Phrasen, wenn sie wie Schlingpflanzen wuchern und bis zur Unkenntkichkeit verzopft werden, bringen die Wirkung des klaren Wortes nicht; sie geben höchstens Anlass zum kopfschüttelnden Gelächter. Das klare Wort hat nur der Mutige.Das hat euch Kirchenmännern von jeher gefehlt. Da dürft ihr euch jetzt über das Ende auch nicht wundern und solltet nicht das, was ihr versäumt habt, nämlich zur rechten Zeit das klare Wort zu sprechen, nun zu spät mit euren Sprüchen, mögen sie heilig oder scheinheilig sein, versehen und weiter zur Unkenntlichkeit verzopfen.”
Ich setzte die Geschichte fort: Die Reaktion war stille Betroffenheit. Auch Eckhart Hieronymus schwieg. Bäuerin Dorfbrunner goss den Kaffee nach. “Nun will ich euch etwas Lustiges erzählen”, sagte der Namensvetter, “es ist lustig, weil es paradox erscheint. Als ich in der Oberprima war, wollte ich entweder Medizin oder Theologie studieren. Jetzt mögt ihr lachen { was keiner tat }, weil das zu meiner Uniform nicht passt. Ich hatte mir vorgenommen, mein Leben für die Menschen einzusetzen, den Notleidenden zu helfen und den Beruf dafür zu wählen. Das Abitur in Grimma hatte ich als Drittbester passabel abgelegt. Ich konnte den Beruf nach meiner Neigung und Begabung wählen. Meine Eltern hatten mir die freie Wahl gelassen. Die Theologie habe ich dann nicht gewählt, weil mir die Sache mit dem lieben Gott zu riskant war, ich meine die Tatsache, dass sich die meisten Menschen für ihn nicht mehr interessierten. So begann ich das Studium der Medizin und belegte in den ersten Semestern im Rahmen des ‘Studium generale’ auch geisteswissenschaftliche Fächer wie Mathematik und Philosophie. Hier erkannte ich bald, dass mir die abstrakten Denkwissenschaften doch nicht auf den Leib geschrieben waren, wenn sie mich anfangs auch faszinierten. Mit der Medizin hielt ich bis zum Physikum durch, wo ich die Prüfung in physiologischer Chemie zu wiederholen hatte.
Das Heilfach habe ich dann gegen den Rat meines Vaters, der ein Geschäft zur Herstellung von Arm- und Beinprothesen führte, an den Nagel gehängt, als die Weimarer Republik mangels Volk untergegangen war und die Ära mit dem Heilsgruß ins zweite Jahr ging. Es waren zwei Dinge, dass ich aus freien Stücken der Waffen-SS beigetreten war; erstens: es sollte eine vorbildliche Kampftruppe von hoher Moral und Disziplin sein, das schien mir bei dem politischen Fiasko und Durcheinander nach dem verlorenen Krieg die große Herausforderung, deren Notwendigkeit zur Herstellung von Recht und Ordnung mich damals überzeugte, heute nicht mehr; zweitens: ich wollte die Sprossen der Offizierslaufbahn bis zur Leitermitte steigen, aber nicht bis oben hin, da es ganz oben zu politisch wurde und ich das absolute Gehör der Hörigkeit und die Spürnase für die analen Abgase des Höchsten nicht hatte und auch nicht haben wollte. In der Leitermitte war dagegen Platz für mich, wo ich mich für die Umsetzung der Moral und Disziplin bei der Truppe in die Praxis einsetzen konnte und auch einsetzte. Ich darf sagen, dass diese Tugenden in meiner Kampftruppe bis auf den Tag den hohen Stellenwert behalten hat. Bis auf einen hat sich keiner meiner Leute an wehrlosen Menschen vergriffen. Statt dessen haben sie alten und gebrechlichen Menschen und Müttern mit ihren Kindern geholfen. Der eine war das schwarze Schaf, er hatte sich an einem Mädchen vergriffen. Dafür bekam er eine Woche Bunker und zwei Jahre Strafbataillon bei den schweren Pionieren, zuletzt vor Stalingrad. Bei der Heilsarmee hätte ich es, wenn ich es rückblickend bedenke, wahrscheinlich weiter gebracht. Aber die war zu jener Zeit in Auflösung begriffen.”
Diese Bemerkung löste ein Schmunzeln aus. “Dann warst du, wenn ich dich richtig verstanden habe”, kommentierte Eckhard Hieronymus, “das weiße Lamm im schwarzen Wolfspelz.” “Nicht ganz”, erwiderte der Namensvetter, denn eine blütenweiße Weste habe ich nicht. Auch ich habe zu Dingen geschwiegen, zu denen ich nicht hätte schweigen sollen. Ich werfe mir vor, einen Sturmführer einer anderen Einheit nicht erschossen zu haben, der ein Massaker an wehrlosen Männern, Frauen und Kindern in einem Dorf unweit von Kiew veranstaltete. Diese Schuld muss ich neben anderen kleineren Schulden mit in mein Grab nehmen.”
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