Mit der russischen Besetzung begann die Jagd auf die Nazis, die über Nacht so gut wie verschwunden waren. Das Verschwinden, als hätte es keinen Nazi gegeben, wollten die russischen Besatzer nicht glauben. “Du Nazi!”, riefen oder schrien sie den Männern auf die Köpfe zu und setzten ihnen die Pistole auf die Brust, wenn ihnen ein deutscher Mann über den Weg lief, oder sie bei der Hausdurchsuchung zwecks Plünderung auf einen trafen. Viele wurden im Brüllkommando “Mitkomm!” aus ihren Häusern gezerrt und von Plätzen und Straßen zur Kommandantur verschleppt und dort unter Androhung von Schlägen und “Sibír!” verhört. Berlin war besetzt, und der Krieg war aus. Die Uhren mochten noch großdeutsch ticken, als die Besatzer schon vor der bedingungslosen Kapitulation auf der Jagd nach den Nazis waren, die nicht alle verschwunden sein konnten, und ihr grausames Exempel statuierten.
Unweit der Stadt, es war im April 1945 im Dorf Niederkaina, trieben russische und polnische Soldaten deutsche Männer im Alter von 18 bis 50 Jahren in eine Scheune und brannten die Scheune nieder. Nun bekamen die Menschen noch mehr Angst, was die Besatzer bezweckten und ihr System der Bespitzelung und Denunziation aufbauten, um erfolgreicher die versteckten Nazis aufzuspüren. Es sei angemerkt, dass sich auch von den Deutschen viele wunderten, wie schnell die ‘Nazidecke’, die bis vor kurzem und über so viele Jahre dick auf den Gesichtern lag, sich verdünnt hatte, ja verflogen war, dass man es selbst von den ‘Eingefleischten’ nicht glauben konnte. Russisch war die Amtssprache der Verhöre und Genehmigungen; russisch war auch die Sprache, in der geplündert und vergewaltigt wurde. Das Deutsch kam nur gebrochen weg. Dolmetscher wurden den Verhören und Verhandlungen beigesetzt, die von russischer Seite oft jüdische Offiziere waren, die vor oder mit Machtantritt des NS-Ungeheuers, als politische Quer- und Andersdenker ( Kommunisten, Sozialisten und Sozialdemokraten ) emigrierten oder von den Eltern oder noch davor außer Jiddisch etwas Deutsch gelernt hatten. Die Kommandantur zog auch von deutscher Seite Dolmetscher heran; das waren oft Männer, die ihr Russisch an der Front oder als Antifaschisten bei der Ausbildung in Moskau oder an einer sowjetischen Universität erlernt hatten.
Das Haus am Albertplatz hatte einen Granateinschuss abbekommen. Anna Friederike und ihre Freundin Angelika erlebten mit Todesangst den wuchtigen Einschlag und danach den Zeitpunkt ‘0’ in ihrem Dachzimmer, in das sie sich eingeschlossen hatten. Sie hatten es vorher nicht geschafft, auf den Hof nach Pommern zu kommen, weil in östlicher Richtung zu dieser Endzeit nichts mehr ging. Beide wurden in der ersten Besatzungswoche von je zwei Sowjetsoldaten auf dem Dachboden vergewaltigt. Bei Anna Friederike richteten die beiden brutalen Stoßer, die wie Hunnen auf ihr ritten, ein vaginales Blutbad an, weil sie menstruierte. Blutverschmiert steckten sie ihr Gehänge in die Hosen zurück und ließen Anna Friederike in der Blutlache liegen. Die Klinik war außer Betrieb.
Der Arzt war zum Volkssturm eingezogen worden und nicht zurückgekehrt. Ob er noch lebte, niemand wusste es. Mit einem Bus, den ein einflussreicher NS-Mann zur Flucht seiner Frau beschafft hatte, wurde sie als Patientin getarnt mit den richtigen Klinikpatienten, unter denen auch eine Schwangere war, die vor der Entbindung stand, und einer Hebammenschwester Richtung Westen gefahren, um zu den Amerikanern zu kommen. Die Arztfrau fuhr mit ihren drei Söhnen und Gepäck im kleinen DKW dem Bus hinterher. Die Fahrt sollte über Pirna dann durch Böhmisch-Mähren nach Thüringen gehen. Es kam die Nachricht, dass der Bus bei einem Tieffliegerangriff in Pirna getroffen wurde, die Insassen aber in einem Behelfsbunker überlebt hätten. Die Frau des Arztes hatte im nahe gelegenen Bergishübel ein Notentbindungsheim eröffnet, nachdem sie mit ihren Söhnen die Fahrt fortgesetzt, aber hinter Aussig vor den aus Thüringen anrückenden russischen Panzern abgebrochen habe und nach einer Odyssee, zunächst auf offenen Güterwagen, mit dem Zug nach Pirna zurückgekehrt war. Hier, auf den Höhen des waldreichen und idyllischen Elbsandsteingebirges, hatte die Schwangere einen Sohn gesund zur Welt gebracht.
Harte Faustschläge gegen die verschlossene Tür
Eine aufregende Geschichte ereignete sich am Freitag der zweiten Woche sowjetischer Besatzungszeit: Eine Männerfaust schlug hart gegen die verschlossene Tür. “Aufmachen oder schieß!”, rief eine kratzige Stimme im tiefen Bariton. Anna Friederike und ihre Freundin erschraken, fürchteten sie sich doch vor dem Schlimmsten. “Mach du auf, ich habe Angst”, sagte Angelika. Mit einem Tuch um den Kopf und einem alten Kleid, das die Jugend verdecken und die sexuelle Begierde der Soldaten zerstreuen sollte, öffnete Anna Friederike die Tür, erst auf einen Spalt, dann ganz. Vor ihr standen ein hochgewachsener Offizier und sein kurzer Adjutant, der das Gewehr auf sie richtete. “Du arbeiten hier?”, fragte der Offizier. Anna Friederike verstand nicht, was er meinte. “Du Dokter?”, fragte er. Nun verstand sie seine Frage. “Ich bin kein Arzt”, antwortete sie. “Du arbeiten mit kranken Menschen?”, fragte der Offizier. Anna Friederike sagte, dass sie als Schwester hier gearbeitet habe, als die Klinik in Betrieb war.
“Du doch Dokter”, sagte nun mit einem Lächeln der Offizier. Dann sagte er: “Mitkommen! Mann mit viel Blut.” Sie folgte ihm beim Treppenabgang vom Dach- zum Erdgeschoss. Das Schloss an der hohen Flurtür zur Klinik war aufgebrochen. Eine Blutspur lief vom Hauseingang über den Außen- und Innenflur bis in den OP-Raum. Auf dem OP-Tisch lag ein junger Soldat mit blutigem Hemd und blutverschmierter Uniformhose. Ein anderer Soldat hielt ihm den rechten Arm gestreckt nach oben, der mit einem Handtuch umwickelt war. Das Tuch war blutdurchtränkt, von dem das Blut auf den Boden tropfte. Drei weitere Soldaten standen im OP herum und schauten die Geräte an und besonders intensiv in den Instrumentenschrank, der nicht verschlossen war. “Du helfen Soldat!”, sagte der Offizier.
Anna Friederike behielt die Ruhe und begann, mit dem ihr gestellten Problem über sich hinauszuwachsen: “Lass sehen!” Der Offizier übersetzte es ins Russisch, und der Soldat wickelte das blutige Tuch vom Arm, das als Staubinde um den Oberarm fest angezogen war. Anna Friederike sah die Wunde an der Beugeseite des Unterarms, aus der es blutete, aber nicht im Pulsschlag spritzte. Sie hielt die Blutung für eine venöse und nicht für eine arterielle. Der Erfolg trat augenblicklich ein: die Wunde am Unterarm hörte auf zu bluten. Offizier und Soldaten machten große Augen. Der Offizier klopfte ihr auf die Schulter und sagte: “Nemjétskij [ deutscher ] Dokter, gut Dokter.” Sie legte eine trockene Kompresse auf und zeigte dem armhaltenden Soldaten, wie er mit der freien Hand die Kompresse auf die Wunde zu drücken hatte. Der tat es wie befohlen. Anna Friederike holte aus dem Instrumentenschrank Pinzette, Schere, Nadel, Nadelhalter und Nahtmaterial, legte sie in die Nierenschale und schob die Schale in den Sterilisator. Mit Wodka, den der Offizier aus der mitgebrachten Flasche in eine kleine Metallschale goss, säuberte sie die Wunde. Dann betäubte sie mit Spritze und Nadel das Wundgebiet, deckte den Arm mit einem sterilen Tuch ab, das noch abgepackt war, und wartete auf dem Hocker sitzend die Zeit ab, die die Instrumente zum Sterilisieren brauchten. Um sie herum standen Offizier und Soldaten, die von ihrer Kenntnis und dem Können angetan und verstummt waren. “Du machen viel Operation?”, fragte der Offizier in einem Deutsch, das sie dem an Österreich angrenzenden Balkan zuordnete. “Ich bin Krankenschwester und kein Arzt”, sagte sie. “Du Nemjétskij Dokter, gut Dokter”, beharrte der Offizier. Sie holte die Nierenschale mit den Instrumenten aus dem Sterilisator, stellte die Schale auf den abgedeckten Instumententisch, zog sich die Handschuhe über, klemmte in der Wunde die blutende Vene ab, unterband sie und vernähte die Haut. Sie legte den Verband an und wickelte eine Binde um den Unterarm. “Ótschen karoschó!” [ sehr gut! ], kommentierte der Offizier die Leistung des “Doktors”.
Читать дальше