Die Dämmerung hatte eingesetzt. Auf dem Weg zurück sagte Heinz Töpfer, dass der Krieg und die Zeit nach dem Krieg große menschliche Erschütterungen ausgelöst haben, und dass die Erzählungen und Lebensgeschichten von und über Menschen aus jener Zeit nicht weniger erschütternd sein können. Dann erzählte ich ihm von dem negativen Ergebnis der Suchaktion nach der Großmutter Hartmann und die weitere Geschichte des Breslauer Superintendenten Dorfbrunner auf seiner Suche nach Arbeit und seine Tätigkeit als Hilfslehrer an der Ernst Thälmann-Grundschule.
Einige Wochen waren vergangen, als an einem Mittwochnachmittag Major Woroschilow in die Klinik kam und Anna Friederike die Nachricht vom Kommandanten brachte, dass die Suchaktion nach der Großmutter erfolglos verlaufen war. Der Stadtkommandant von Halle, Generalmajor Perschinski, hatte dies mitgeteilt, nachdem er alle Hebel in Bewegung gesetzt hatte, um sie zu finden. Es gäbe zwar Einwohner mit dem Namen Hartmann, die aber auf Befragung eine verwandtschaftliche Beziehung zu Frau Elisabeth Hartmann aus Breslau verneinten. Auch konnte eine Spur zu den Bauersleuten Ludwig und Martha Lorch nicht gefunden werden, die Frau Hartmann auf ihrem Wagen mitgenommen hatten.
Kommandant Tscherebilski bedauerte aufs Tiefste, diese Nachricht geben zu müssen. Es war eine traurige Nachricht für die Familie, dass Luise Agnes, die Frau von Eckhard Hieronymus Dorfbrunner, ihre Mutter und für Anna Friederike die Großmutter nicht mehr wiedersahen und in ihre Arme schließen konnten, nachdem sie, Frau Elisabeth Hartmann, mit Mädchenname Sara Elisa Kornblum, das NS-Terrorsystem mit der Vergasung überlebt hatte, weil sie von 1936 bis 1945 auf dem Bauernhof der Lorchs versteckt gehalten wurde, nachdem für sie eine offizielle Todesbescheinigung beschafft worden war. Die Suche nach ihr wurde eingestellt, als auch von Heinz, dem jungen Mann, der einer Strafanstalt für politische Häftlinge entkommen war und mit dem wehrmachtsflüchtigen Klaus auf einem gestohlenen Krad der Wehrmacht an einem verschneiten Winterabend zum Bauernhof im Dorf Pommern gefahren kam, dort versteckt und versorgt wurde, sich nach Kriegsende auf den Weg nach Halle machte, die Nachricht kam, dass er von der Großmutter und den Bauersleuten Lorch keine Spur entdecken konnte. Er drückte die Vermutung aus, dass der Treckwagen die Stadt Halle gar nicht erreicht hatte.
Eckhard Hieronymus Dorfbrunner wartete auf den Anruf des Superintendenten Bosch, der aber nicht kam. Auch von Herrn Feigel, dem Rektor der Stein-Oberschule, kam keine Nachricht, obwohl er ihn im Auge behalten wollte, wie er am Ende des langen Gesprächs versicherte, in dem es darum ging, ob an der Oberschule eine Lehrerstelle zu bekommen war. Nach einer Wartezeit von über sechs Monaten war es dann soweit, dass ein Lehrer, nicht an der Stein-Oberschule, sondern an der Ernst Thälmann-Grundschule gesucht wurde. Kommandant Tscherebilski hatte davon erfahren und schickte seinen Fahrer mit einem Schreiben zum Hof nach Pommern, in dem er den Sachverhalt schilderte und Eckhard Hieronymus bat, auf der Rückseite des Schreibens seine Entscheidung mit ‘Ja’ oder ‘Nein’ anzugeben. Beim ‘Ja’ wolle er mit dem Rektor der Schule Kontakt aufnehmen und sich für ihn verwenden. Eckhard Hieronymus, den die lange arbeitslose Wartezeit hart drückte, vermerkte sein ‘Ja’ auf der Rückseite des Schreibens, und der Fahrer fuhr mit Schreiben und rückseitig notierter Entscheidung zur Kommandantur zurück. Es vergingen nur wenige Tage, als Eckhard Hieronymus einen Anruf erhielt, in dem der Rektor ihm mitteilte, dass er am folgenden Tag um neun Uhr vor der Einstellungskommission zu erscheinen habe. Er solle sich pünktlich bei ihm melden.
Dorfbrunner vor der Einstellungskommission in der Ernst Thälmann-Grundschule
Am nächsten Morgen klopfte Eckhard Hieronymus zehn vor neun an der Sekretariatstür. “Herein!”, rief eine harte Frauenstimme. Er ging hinein und traf auf eine hagere Frau der frühen Fünfziger im weißen KLeid mit roten und gelben Punkten, einem blassen, ausdruckslosen Gesicht mit Stupsnase und dauergewelltem braunen Haar mit grauen Streifen und verbissenen Lippen hinter dem Schreibtisch sitzen. Eckhard Hieronymus erinnerte sich, dass er solche ‘geschlechtslosen’ Wachteltypen mit der ausdruckslosen Gesichtigkeit zu hunderten in der alten, deutschen Zeit in den Sekretariaten angetroffen hatte. “Haben Sie eine Absprache mit Herrn Krautsch?”, fragte sie in der Sprache des Grundschulneutrums unverbindlich hart und weltenweit vom Funken eines Charmes entfernt. Eckhard Hieronymus bejahte die Frage und sagte, dass er sich pünktlich bei ihm melden solle. “Dann warten Sie, bis er kommt!”, sagte sie barsch und ohne jede sprachliche Politur. Er wartete, und das noch länger, bis es neun Uhr vorbei war. Eckhard Hieronymus fragte sie, ob sie nicht nachschauen könne, wo Herr Krautsch ist. “Was sind das denn für Allüren, noch nachsehen, wo der Rektor ist!”. Das war die Spitze einer kurzen sekretärialen Steigerung morgens gegen neun in der Ernst Thälmann-Grundschule.
Die Tür ging auf, Herr Krautsch kam raus: “Sind Sie der Herr Dorfbrunner?” E.H.: “Ja, der bin ich.” Rektor: “Wo bleiben Sie denn? Ich habe ihnen doch am Telefon gesagt, sich pünktlich bei mir zu melden.” E.H.: Seit zehn vor neun stehe ich in ihrem Sekretariat.” Der Rektor warf der Sekretärin einen scharfen Blick zu, die ihren Mund geschlossen und ihr Gesicht über dem Schreibblock gesenkt hielt und sich auf die altbekannte Weise der Verantwortung entzog. Rektor: “Kommen Sie mit, die Leute von der Kommission warten schon.” Sie gingen den langen Flur mit der Fensterfront zur Straße und betraten das letzte Klassenzimmer mit seinen drei Fenstern zum Schulhof. Die niedrigen Schulbänke und Stühle waren ans hintere Ende des Klassenraumes zusammengeschoben. Ein langer Tisch stand am anderen Ende, wo die Tafel an der Wand war. Hinter dem Tisch saßen vier Herren, zu denen sich der Rektor als Fünfter hinzusetzte und seinen Platz rechts außen einnahm. In der Mitte des Fünferrates saß offenbar der Vorsitzende der Befragungskommission, ein Mann der Vierziger mit dem neuen ovalen Parteiabzeichen an seiner grauen Jacke. “Nehmen Sie Platz!” Das war leichter gesagt als getan, denn für Eckhard Hieronymus gab es gar keinen Stuhl. Die niedrigen Stühle, die mit den Bänken nach hinten gerückt waren, um Platz für den Tisch und den Fünferrat zu bekommen, waren zu klein. So schob er eine Schulbank, hinter der gewöhnlich zwei Schüler beim Unterricht zu sitzen haben, von hinten nach vorn und setzte sich auf die Bank. Keiner von den Fünfen hatte seine Hilfe zum Tragen der Schulbank angeboten, geschweige denn war aufgestanden und hatte die sozialistische Bruderhilfe geleistet.
Vorsitzender: Name? E.H.: Dorfbrunner.
Vorsitzender: Vorname? E.H.: Eckhard Hieronymus.
Vorsitzender: Alter? E.H.: 54 Jahre.
Vorsitzender: Beruf? E.H.: Pfarrer der evangelisch-lutherischen Kirche.
Vorsitzender: Stellung zuletzt? E.H.: Superintendent in Breslau.
Vorsitzender: Familienstand? E.H.: Verheiratet.
Vorsitzender: Kinder? E.H.: Eine Tochter; ein Sohn, an der Front verschollen.
Vorsitzender: Gegenwärtiger Wohnort? E.H.: Hof Pommern. Ein Beisitzer machte ein ungläubiges Gesicht: “Was sagen Sie da? Pommern ist doch polnisch!” E.H.: Ich meine den Bauernhof im Dorf Pommern ( allgemeines Schmunzeln ).
Vorsitzender: Arbeiten Sie in der Landwirtschaft? E.H.: Ja, wenn Not am Mann ist ( ungläubige Blicke )
Vorsitzender: Wer ist Ernst Thälmann? E.H.: Ein Führer der Kommunistischen Partei, der wie Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ermordet wurde.
Vorsitzender: Was ist Materialismus? E.H.: Materialismus ist die Wissenschaft zum Anfassen.
Vorsitzender: ( mit verstörtem Gesicht ) Wie meinen Sie das? E.H.: Es ist die Betrachtung der Welt, die sich um die Materie dreht. Die Eisenkugel wird angeschaut, vermessen, gewogen, ins Rollen gebracht oder in die Luft gestoßen, wo die Entfernung der nach dem Wurf auf den Boden aufschlagenden Kugel zum Kugelstoßer gemessen, die Formel der Wurfparabel aus der photographischen Verlaufsaufnahme berechnet wird.
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