“Von dem kannst du dann keine Hilfe erwarten”, sagte Anna Friederike, die sich dem Vater gegenüber an den Tisch gesetzt hatte. “Den kann ich vergessen! Der gehört zu den Menschen, die selbst nicht zu sprechen sind, sich dafür in ungehöriger Weise zu Spaltgesprächen an der kettenverriegelten Tür vertreten lassen, wo dem Draußenstehenden, der mit so einem Benehmen nicht rechnet, sofort das Lass-mich-doch-in-Ruhe durch den Spalt ins Gesicht schlägt. Von diesen Menschen kann ich keine Hilfe erwarten.” “Schade. Das ist wirklich ungehörig. Und weiter?” “Dann ging ich zum Stein’schen Gymnasium, das in Stein-Oberschule umbenannt ist, stieg mit der Hoffnung, hier als Lehrer eine Arbeit zu finden, die Stufen zum Portal hoch, unterquerte ein riesiges Transparent, dass die Frontseite der Schule überspannte, auf dem stand: “Wir danken dem Genossen Stalin, dem großen weisen Führer.” Von der Eingangshalle ging ich in den linken Flur, nahm den rechtwinkligen Knick und ging den Flur bis zum Ende und klopfte an die Tür des Sekretariats. Nach dem zweiten Klopfen öffnete ein hochgewachsener Endvierziger im grauen Anzug und offenem Kragen, mit fliehender Stirn, braunen Augen, großer Nase, großen Ohren, Glatze und ergrautem Kinnbart à la Iljitsch die Tür. “Feigel” sagte er bei der Begrüßung und führte mich durch das Sekretariat ohne Sekretärin in seine ‘Schaltzentrale’, wo er mir den Stuhl vor dem Schreibtisch anbot.
Bei seiner Frage, ob er etwas für mich tun kann, fiel mir das neue Parteiabzeichen mit der wehenden roten Fahne an seinem rechten Jackenaufschlag auf. Auf seine Frage nannte ich ihm als meine Stärke die Sprach- und Literaturkenntnisse in Deutsch und Latein sowie mein solides Geschichtswissen; als meine Schwäche nannte ich die fehlende Arbeit.” “Und wie hat er darauf reagiert?”, fragte Anna Friederike. “Völlig anders, als ich erwartet habe”, antwortete Eckhard Hieronymus. “Hör zu! Bei Geschichte winkte er gleich ab. Herr Feigel fragte mich, ob ich die führenden, sowjetischen Historiker studiert hätte. Als ich das verneinte, sagte er: “Sehen Sie, da würden Sie wieder mit den alten kapitalistischen Kamellen kommen, die doch nicht stimmen, wie die neueste Geschichtsforschung herausgefunden hat.” Beim Fach Deutsch meinte er, dass die Grammatik politisch unbedenklich, die Interpunktion vor allem beim Einschieben von Nebensätzen dagegen politisch bedenklich sei, wenn mit den Kommas herummanipuliert werde, dass der Inhalt des Satzes entstellt, ein ganz anderer wird. Er erwähnte den Altgenossen Wladimir Iljitsch Lenin, der auf die Problematik mit dem Herummanipulieren der Kommas bereits kritisch hingewiesen hätte. Zur deutschen Literatur sagte Herr Feigel, dass die deutschen Klassiker, wie Herder, Goethe und Schiller nur noch am Rande und so weit zu erwähnen sind, dass es sie gegeben hat, weil ihre Werke für die gegenwärtige Gesellschaft und Zeitkritik keine Bedeutung mehr hätten.
Die Literatur im Fach Deutsch werde bei Brecht und Zweig beginnen und auf die Übersetzungen sowjetischer Schriftsteller zurückgreifen, die den Umbruch mit der großen Revolution zum Inhalt haben. Weil eben das kapitalistisch-imperialistische Gedankengut aus der Schule entfernt werden müsse, spiele auch das Fach Latein nur noch eine untergeordnete Rolle, weil die lateinische Literatur die Literatur der römischen Aristokratie und des römischen Imperialismus ist. Herr Feigel räumte zum Bau der lateinischen Sprache ein, dass sie von logischer Dichte sei, weswegen der Lehrplan nicht ganz auf das Latein verzichten könne, das es in den beiden letzten Schuljahren als Fach der zweiten Fremdsprache geben wird, wenn zwischen Englisch und Latein zu wählen ist. Dann gab er einen längeren Abriss über die Stellung und den Sinn der Schule in der neuen Gesellschaft und die Bedeutung des neuen Denkens und Gedankengutes. Das neue Denken ist das sozialistische nach dem Vorbild des Genossen Stalin.
Herr Feigel sagte, er würde mich sofort einstellen, wenn ich Russisch unterrichten würde, weil das die Sprache der großen Revolution ist, die für die neue Gesellschaft unverzichtbar sei. Der Mensch des neuen Denkens müsse die gesellschaftskritische Literatur der Jetztzeit studieren und die Literatur der großen Revolution im Originaltext lesen lernen. Ich muss zugeben, dass mir sein Abriss, der sich durch Gesellschaft und Schule zog, die Sprache verschlug, weil das sozialistische Denken bestimmt, welche Lernfächer in die Schule gehören und welche nicht. Leute wie mich, das hörte ich heraus, sind als Lehrer nicht gefragt, weil sie das alte, feudalistisch-kapitalistische Denken in den Köpfen haben, das da weder herauszuwaschen noch herauszubürsten noch wie beim Hemdswechsel in das neue Denken umzuwechseln ist. So hatte sich Herr Feigel ausgedrückt. Es war mir klar, dass der Rektor der Stein-Oberschule mich zu den unverbesserlichen, reaktionären Alten zählte, die seiner vorgetragenen Ansicht nach zum Abfall kapitalistischer Gedankenträger mit der kapitalistischen Erziehung und Schulausbildung gehören.”
“Armer Papa, dann hast du einen schweren Morgen gehabt. Du tust mir leid”, bedauerte Anna Friederike den Vater, nachdem sie den Topf mit der Erbsensuppe aus der Küche geholt hat und dabei war, mit einer Soßenkelle die Suppe in die Teller zu tun. “Insofern schwer”, fügte Eckhard Hieronymus hinzu, “als ich jetzt auch nicht mehr weiß , was ich noch tun soll, um Arbeit zu finden.” Angelika kam aus dem Mansardenzimmer und setzte sich mit an den Tisch im Flur. Er sprach das Tischgebet, in dem er dem Herrn für seine Geduld und Güte dankte, ihn bat, die Menschen aus der Not und Verzweiflung herauszuführen und ihnen das Licht der Hoffnung zu geben. Sie löffelten die Suppe, als Eckhard Hieronymus den Nachtrag gab: “Ach so, das hatte Herr Feigel noch gesagt, dass er mir trotz der vorgetragenen, neuen Kriterien insoweit helfen möchte, dass er sich meinen Namen, meinen Beruf, meine Anschrift und Telefonnummer notieren wolle, was er auch tat, und mich im Auge behalten werde.
Sollte ich als Hilfs- oder Ersatzkraft in Betracht gezogen werden, eine permanente Anstellung schloss er bei mir aus, dann werde ich vor eine Einstellungskommission geladen, die mich eingehend befragen und mir über die fachlichen Qualitäten hinaus auf den Zahn fühlen werde. Dabei machte Herr Feigel den entscheidenden Zusatz, dass die ganze Sache gleich ins Wasser fällt, falls ich Mitglied der NS-Partei gewesen war.” Nun schwiegen alle drei, als sie mit dem Löffeln der Erbsensuppe beschäftigt waren, die eintönig und fad schmeckte, weil der geschmacksbelebende Essigzusatz fehlte. Das brachte der jungen Köchin jedoch keine Kritik ein. Im Gegenteil, Eckhard Hieronymus und Angelika lobten die gute Küche, dass die Suppe hervorragend geschmeckt habe.
Der Besuch des Stadtkommandanten im Dachgeschoss – Das Gespräch mit Eckhard Hieronymus Dorfbrunner
Es war gegen zwei, als sie die Teller geleert hatten und Anna Friederike mit dem Abräumen beschäftigt war. Unten an der Haustür waren Männerstimmen zu hören, die lauter wurden, je höher die Schritte die Treppe herauf kamen. Plötzlich standen fünf Russen vor dem kleinen Esstisch im schmalen Zimmerflur des Dachgeschosses. Unter ihnen waren der Stadtkommandant und Major Woroschilow. “Bleib sitzen, Vater, du brauchst dich nicht zu fürchten”, sagte Anna Friederike, die aus der engen Küche mit einem feuchten Lappen kam, um die Tischplatte sauber zu wischen. Sie legte den Lappen verknüllt auf den Tisch, ging auf den Kommandanten zu, der sie herzlich mit Handschlag begrüßte. Sie gab auch dem Major die Hand und stellte dem Kommandanten ihren Vater vor, der sich von seinem Stuhl erhoben hatte: “Das ist mein Vater, Eckhard Hieronymus Dorfbrunner.” Zum Vater sagte sie: “Das ist der Kommandant”. Vater und Kommandant gaben sich die Hand, wobei der Kommandant seinen Offiziersrang und den Namen nannte: Generalmajor Tscherebilski. Dann stellte Anna Friederike dem Vater den Major Woroschilow vor. Auch sie gaben sich die Hand. “Setzen Sie sich, Herr Kommandant!”, sagte Eckhard Hieronymus zu Generalmajor Tscherebilski, der mit einem Lächeln das Angebot annahm und sich mit an den kleinen Tisch setzte. Major Woroschilow nahm einen Platz an der Schmalseite des Tisches ein. Den anderen Offizieren befahl der Kommandant, unten vor dem Eingang zu warten.
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