Der Kommandant warf eine Saccharintablette in den kalt gewordenen Brennnesseltee, betrachtete das Aufschäumen des Zuckerersatzes und nahm einen Schluck. Er verzog das Gesicht, wie sich Gesichter verziehen, wenn etwas bitter schmeckt. “Ist das der Tee, den Sie jeden Tag trinken? Der schmeckt wie bittere Medizin, die mir meine Mutter gab, um die Erkältung zu kurieren”, sagte er mit verständnisvollem Lächeln zu Anna Friederike. “Anderen Tee kann ich ihnen leider nicht anbieten”, erklärte sie. “Nehmen Sie meine Frage nicht so ernst”, sagte der Kommandant, setzte die Tasse zurück und zündete sich eine Zigarette an. Major Woroschilow kam mit zwei Flaschen und einer Schachtel Pralinen zurück und stellte sie auf den Tisch. Von den Flaschen war Wodka die eine und Rotwein von der Krim die andere. “Das ist etwas, um dem Geschmack wieder auf die Sprünge zu helfen”, sagte der Kommandant, der die Klarsichthülle von der Pralinenschachtel zog, sie öffnete und die Pralinen zum Nehmen anbot. Der Major öffnete die Rotweinflasche. “Holen Sie die Gläser”, sagte der Kommandant zu Anna Friederike. Sie kam aus der Küche mit Wassergläsern zurück, die dazu noch verschieden waren. “Ich habe keine passenden Gläser”, sagte sie und stellte jedem das Wasserglas vor. “Das macht überhaupt nichts. Wir trinken ja Wein und keine Gläser”, lachte der Kommandant.
Pralinen und Wein, wann gab es das in Breslau? Eckhard Hieronymus und Anna Friederike tauschten ihre Blicke aus und dachten es zur selben Zeit. Doch keiner wusste es. Nachdem jeder eine Praline im Mund hatte und den Inhalt mit dem köstlichen Likör auf der Zunge zergehen ließ, hob der Kommandant das über die Hälfte mit Rotwein gefüllte Wasserglas: “Trinken wir auf die Zukunft, auf die Versöhnung unserer Völker, auf ihre Leistungen in den Wissenschaften und in der Kunst. Sehr zum Wohl!” Sie hatten die Gläser abgesetzt, als Eckhard Hieronymus hinzufügte, dass sich das deutsche und das russische Volk in den Kulturen viel zu sagen hätten.
“Apropos Großmutter”, sagte der Kommandant, “Major Woroschilow hat mir berichtet, dass ihre Schwiegermutter auf einem Fluchtwagen nach Halle mitgenommen wurde. Er sagte auch, dass Sie nach ihr suchten, aber nicht wüssten, wo Sie in Halle ist. Ich habe Generalmajor Perschinski, er ist der Stadtkommandant von Halle, den Namen durchgegeben und ihn von ihrem Anliegen unterrichtet. Er hat mir seine volle Unterstützung zugesagt.” E.H.: “Für ihre Bemühung möchte ich ihnen ganz herzlich danken.” Anna Friederike schloss sich dem Dank an und lächelte den Kommandanten an. Kommandant: “Ich habe durch Major Woroschilow erfahren, dass Frau Elisabeth Hartmann die Jüdin ihrer Familie ist, die für gestorben erklärt und über viele Jahre auf einem Bauernhof vor den Nazis versteckt gehalten wurde.” E.H.: “Dass meine Schwiegermutter das System der Ausrottung überlebt hat, das verdanke ich einem Standesbeamten in Breslau, der die Einsicht und den unglaublichen Mut hatte, eine offizielle Todesbescheinigung auszustellen. Wenn er die Ausstellung der Bescheinigung verweigert hätte, was die meisten Beamten taten, wenn es sich um die Rettung jüdischer Menschen handelte, dann wäre auch diese herzensgute Frau längst umgebracht worden.”
Kommandant: “Ich muss gestehen, dass ich den Mut zutiefst bewundere, den einige Deutsche gegen das Terror- und Vernichtungssystem bewiesen haben. Es ist nicht so, dass alle Deutschen dem tyrannischen Wüterich und seinen verblendeten Vasallen blindlings nachgelaufen sind. Es ehrt die wenigen Deutschen, während die Mehrzahl in Unehrenhaftigkeit und Opportunismus verharrte. Wenn ich von Generalmajor Perschinski genaue Angaben erhalte, wo sich Frau Hartmann aufhält, dann lasse ich Sie nach Halle fahren, um ihre Schwiegermutter abzuholen.” E.H.: “Vielen Dank, Herr Kommandant.” Major Woroschilow füllte die Gläser mit Rotwein auf. Der Kommandant hob das Glas und gab den folgenden Trinkspruch: “Was war, es ist vergangen. Das Verlangen für die Zukunft bleibt, dass Menschen nun in Frieden leben wollen. Sehr zum Wohl!” Dem fügte Eckhard Hieronymus die Zeilen an:
Ihr Völker, wenn das Blut vergossen ist, verstummt sind eure Söhne. Dann liegt zerschlagen auch das Glück.
Am Boden bleiben Träume liegen, wo einst Jugend sprang und klopfte, da ist’s nun still, ganz totenstill. Wer möchte da noch bleiben?
Räume, die im Lichte sind, vertragen Totenkälte nicht. Es bläst der Wind, um Himmelskind, was ist das für eine Schelte!
Drum vergesst der Mütter Liebe nicht, vergeudet nicht die Kinderherzen. Gebt sie zum Schießen nicht mehr her, zu groß sind dann die Schmerzen.
Denn weinen könnt ihr, wie ihr wollt, das Leben kommt nicht wieder, wenn der Sohn gefallen ist. Völker, nehmt es euch zu Herzen!
Allen gingen die Verse zu Herzen. Der Kommandant stand auf und umarmte den Dichter. Es hatte ihn tief berührt, so tief, dass er sich die Tränen aus den Augen wischte. “Großartig, großartig!”, rief er so laut durch den schmalen Flur, dass die unten wartenden Offiziere hoch kamen und nach ihrem Kommandanten sahen, dessen Blick auf dem blassen Gesicht von Eckhard Hieronymus ruhte. “Sie haben nicht nur eine begabte Tochter, nun habe ich einen Menschen von noch größerer Begabung, einen Dichter der deutschen Sprache sprechen gehört. Großartig, wie einsam großartig!” Die Offiziere blickten erstaunt, weil sie diese Sprache nicht verstanden. Der Kommandant hob das Glas und trank auf das Wohl des Dichters. Dann übersetzte er die Verse in die russische Sprache, und die Offiziere behielten ihre großen Augen.
“Wir werden uns wiedersehen!” Der Kommandant stand auf, verabschiedete sich und verließ mit seinen Offizieren den schmalen Flur des Dachgeschosses. Auf der Treppe drehte er sich noch einmal um: “Es war ein wunderbares Erlebnis. So wäre es unseren Völkern besser ergangen.” Auf seinem Gesicht lag das besondere Lächeln der Nachdenklichkeit, das aus einer tiefen Empfindung kam. Dann lachte er und sagte mit Blick auf Anna Friederike: “Nemjétskaja doktóra, Sie wollten mir das Auge, das nicht sehen kann, aber drückt, herausschneiden. Nach der großartigen Begegnung mit ihrem Vater will ich Sie heute nicht darum bitten. Ich werde ein anderes Mal wiederkommen.” Dann ging der Kommandant die Treppe herunter, gefolgt von seinen Offizieren, und verließ das Haus.
Eckhard Hieronymus saß am Tisch. Mit ihm saßen Anna Friederike und Angelika. “Ich muss mein Urteil revidieren”, sagte er, “mit so einem Kommandanten habe ich nicht gerechnet. Der ist ein Mensch geblieben.” “Ein gebildeter und hochmusikalischer dazu”, ergänzte Anna Friederike. “Auch das will ich dir glauben”, sagte der Vater. Sie steckten sich noch eine Praline in den Mund und ließen den Likör auf der Zunge zergehen. E.H.: “So war für mich der Tag doch nicht verloren, denn so ein Gespräch gibt es nicht alle Tage. Da können wir von den Russen manches lernen, wenn es um die Bildung des Herzens geht.” Anna Friederike sagte, dass von den Menschen, die nicht beten und sich Atheisten nennen, die Christen, die doch beten, lernen können, was Verlässlichkeit und tätige Hilfe ist, wenn Menschen in Not darum bitten. Eckhard Hieronymus meinte, dass er sich bei dem Kommandanten nicht sicher sei, ob er nicht doch Gott in seinem Herzen trage. Denn hohe Bildung und Musikalität gehen oft mit tiefer Gläubigkeit einher. “Lass uns hoffen, dass wir bald Großmutter in unsere Arme schließen können”, sagte Anna Friederike. “Ja, das wollen wir alle und ganz stark hoffen”, schloss sich Eckhard Hieronymus diesem Wunsch an.
Eckart kam die Treppe herauf, um den Superintendenten a.D. für die Rückfahrt zum Hof Pommern abzuholen. Anna Friederike bot Eckart eine Praline an und goss ihm eine Tasse kalten Brennnesseltee ein, in die er zwei Saccharintabletten warf. Er fragte, ob der Tag erfolgreich war. Eckhard Hieronymus gab die Formel aus: Arbeit ‘0’, Hoffnung ‘schwach positiv’, Gespräch am Morgen ‘mangelhaft’, am Nachmittag ‘sehr gut’. Vater und Tochter umarmten sich. Dabei sagte der Vater: “Gott möge dich beschützen, deinen Leib und deine Seele vor dem Bösen bewahren.” Anna Friederike hörte genau hin, als hätte der Vater die Ahnung, dass ihr das Böse bereits zugestoßen war. Sie wollte es ihm nicht sagen, dass sie und Angelika schon in der ersten Woche von einer Gruppe russischer Soldaten vergewaltigt worden waren. Das würde ihn zusätzlich beunruhigen, wenn er doch genug Probleme bei der Arbeitssuche hat. So sagte die Tochter zum Vater: “Bleib du nur gesund, und verlier die Hoffnung nicht. Es wird schon klappen. Grüß Mutti und die Bäuerin herzlich von mir. Sag ihnen meinen Dank für den lieben Brief und die Köstlichkeiten für den Magen. Sag ihnen, dass wir auf der Suche nach der Oma sind.” Sie brachte den Vater und Eckart zum Pritschenwagen. Der Wachsoldat vor dem Eingang ging höflich zur Seite. Eckart half Eckhard Hieronymus beim Aufsteigen. Er selbst bestieg mit Schwung den Kutscherbock, nahm die Zügelleine in die linke Hand und gab dem Hengst das “Hü!”- Kommando. Anna Friederike winkte ihnen noch eine Weile hinterher.
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