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Dem kleinen Flittchen werde ich’s schon noch zeigen , dachte Hildegard Waszciewski noch Stunden später, während sie sich ärgerlich im Spiegel betrachtete. Die Frisur ließ sie alt aussehen und ihr Gesicht feist wirken. Sie war tatsächlich alt und hatte ein feistes Gesicht, aber es war der Job dieser kleinen Schlampe gewesen, das zu vertuschen. Wie sie schon rumgelaufen war, mit diesem Minirock und dem viel zu engen T-Shirt. Vermutlich hatte sie bis in die Morgenstunden in irgendwelchen zwielichtigen Tanzlokalen mit Kerlen rumgemacht.
Hildegard würde sich rächen. Sie wusste zwar nicht, wo diese Schickse wohnte, aber sie wusste, wo sie arbeitete.
„Wir gehen“, sagte sie zu Nestor, der bereits sehnsüchtig an der Tür wartete.
Als tierlieb konnte sie sich nicht bezeichnen; doch nach dem Tod ihres Mannes hatte sie jemand anderen zum Herumkommandieren gebraucht. Heute Abend hatte der kleine Yorkshireterrier die dreifache Portion Hundefutter essen müssen. Immer wieder hatte sie sich gezwungen gesehen, sein kleines Schnäuzchen in den Napf zu drücken, bis er alles hinuntergewürgt hatte. Schließlich sollte er gleich einen richtig großen Haufen machen, direkt vor die Eingangstür dieses miserablen Friseursalons. Sie malte sich aus, wie diese kleine Nutte, die für ihre Frisur verantwortlich war, den Haufen dann morgen früh wegmachen musste. Vielleicht würde sie sogar mit ihren modischen Luderschuhen mitten hineintreten, wenn sie zur Arbeit kam. Der Gedanke ließ Hildegard selig lächeln.
Seit fast einer Stunde winselte Nestor schon an der Tür, aber erst jetzt bot die einsetzende Dunkelheit ausreichend Schutz. Zwar lag der Salon in einer ruhigen Straße, ein Risiko wollte sie dennoch nicht eingehen. Schließlich musste sie auf ihren Ruf achten.
Unterwegs versuchte Nestor bei jedem Baum erfolglos, sein Geschäft zu verrichten. Jedes Mal zischte Hildegard: „Hier nicht!“, und riss abrupt an der Leine. Sie konnte ihr Ziel schon sehen, zum Greifen nah. Doch kurz bevor sie die Eingangstür des Ladens erreichte, trat ein Pärchen aus einem weiter hinten gelegenen Haus und schlenderte ihr entgegen.
Innerlich fluchend ging sie weiter, an der Tür vorbei. Dem jungen Paar warf sie einen missgünstigen Blick zu, dann bog sie in die kleine Seitengasse neben dem Friseurgeschäft. Sie würde einen Moment warten, bis die beiden verschwunden waren, und anschließend zurückkehren, um ihren Racheplan in die Tat umzusetzen. Heftig rüttelte sie an der Leine, damit Nestor nicht auf den Gedanken kam, sich hier Erleichterung zu verschaffen, und zählte in Gedanken langsam bis zehn.
Kaum damit fertig, den Fuß bereits zum Gehen gehoben, ließ sie ein leises Geräusch zusammenfahren. Sie fasste die Leine fester. Im Falle eines Angriffs wollte sie Nestor, der alles andere als ein Kampfhund war, an seiner Leine wie ein Lasso über ihrem Kopf schwingen und mit ihm auf den Bösewicht einprügeln. Ausgemalt hatte sie sich ein solches Szenario schon des Öfteren. Sie war vorbereitet.
Blitzartig wirbelte sie herum.
Doch hinter ihr stand niemand. Sie kniff die Augen zusammen. Im trüben Licht, das von einer verschmutzten Lampe über dem Hinterausgang des Friseursalons kam, waren lediglich drei Müllcontainer zu sehen. Die Klappe des letzten zitterte leicht, als sich das Geräusch wiederholte.
Es raschelte.
Ratten! , dachte sie erfreut. Das sind Ratten!
Sie kannte keine Angst vor Ratten, Spinnen, Schlangen und ähnlichem Getier, ganz im Gegenteil, sie war dankbar, wenn sie den Weg dieses Ungeziefers kreuzte. Wann immer sich ihr die Gelegenheit bot, ein solches Wesen vor seinen Schöpfer zu schicken, nutzte sie diese. Und in diesem speziellen Fall konnte sie den Friseurladen vielleicht wegen Hygienemängeln anzeigen! Das wäre ja fast noch besser als ihr ursprünglicher Plan!
Sie musterte den Container prüfend, öffnete den Deckel einen Spalt und blinzelte hinein. Es war viel zu dunkel darin, um etwas zu erkennen.
Nestor nutzte die Pause, um endlich seinen Darm zu erleichtern. Stolz beschnupperte er seinen Haufen, während sein Frauchen mit der freien Hand den Deckel hob, bis er an der Hauswand lehnte.
Hildegard sah nun ebenfalls einen Haufen. Einen großen Haufen Haare.
Und zwar einen, der sich plötzlich bewegte. Nicht so, als huschte ein kleines Tier unter dem Haarberg herum – der Haufen Haare bewegte sich als Ganzes.
Ein Hund! Einer von diesen Hunden, bei denen man vor lauter Fell nicht weiß, wo vorne und hinten ist, wie heißen die noch gleich? Bobtail! Da hat jemand einen lebenden Bobtail weggeworfen!
Sie verwarf den Gedanken sofort als Blödsinn. Das Vieh war vermutlich auf der Suche nach etwas Essbarem in den Müllcontainer geklettert und nicht mehr herausgekommen. Also würde sie einfach den Deckel wieder schließen und den Hundefänger rufen.
„Und wenn du kein Halsband hast, war’s das für dich“, sagte sie.
Das Ding in der Tonne änderte seine Form. Verblüfft sah sie zu, wie sich ein Arm aus der Mitte des Haarhaufens formte. Ein Tentakel aus Fell, das sich aufrecht vor ihr erhob, bis es ungefähr auf Augenhöhe vor ihrem Gesicht schwebte. Wie eine Kobra, die sich zu den Tönen eines Schlangenbeschwörers aus ihrem Korb gehoben hatte. Sie kannte das aus dem Fernsehen.
„Was, äh …“, murmelte sie.
Dann schoss das Tentakel auf sie zu und wickelte sich um eine Strähne ihrer verunstalteten Frisur. Eine Sekunde lang war sie erleichtert, dass es wohl doch Zeugen dieses unerhörten Vorfalls gab. Doch als der heiße Schmerz einsetzte, begriff sie, dass das Blitzlicht eines Fotoapparates nur eine Täuschung, das gleißende Licht nur vor ihrem inneren Auge aufgeblitzt war. Sie jaulte und presste ihre Hand dorthin, wo sich eben noch die Handvoll Haare befunden hatte, die nun von diesem Tentakel gehalten vor ihren Augen baumelte.
Egal, um was es sich bei diesem Vieh handelte, es war bösartig. Sie musste weglaufen und Hilfe holen, und dann würde irgendjemand dafür bezahlen.
Sie machte einen schnellen Schritt zurück und wollte sich umdrehen, doch sie trat in etwas Feuchtes, Weiches und rutschte aus. Rücklings schlug sie auf das Pflaster. Für einen Moment sah sie Sterne, die kalt und teilnahmslos herabschienen, dann kam das Ding aus dem Müll über sie. Letztlich panisch, öffnete sie den Mund um zu schreien, aber der haarige Arm fuhr ihr direkt in die Kehle. Sie griff nach ihm, doch ein Seil wand sich um ihre Hände und Füße und hielt sie fest.
Während sie langsam erstickte, begann es, ihr auch die übrigen Haare auszureißen.
Kriminalhauptkommissar Ferdinand Krüger zeigte ein besonders grimmiges Gesicht, als er sich den Tatort ansah, denn das Erste, was ihm ins Auge fiel, war Beckmanns Visage. Beckmann von der Spurensicherung, dieser unerträgliche Spießer. Im Moment stocherte der mit gerümpfter Nase in irgendwelchen Müllcontainern. Obwohl Krüger eine entsprechende Bemerkung auf der Zunge lag, nahm er sich vor, den Kerl vorerst zu ignorieren. Statt dessen schlurfte er zu seinem Kollegen, der in sicherer Entfernung um einen wie üblich leblosen Körper auf dem Pflaster herumstromerte.
„Morgen Alex“, gähnte er.
„Morgen, alter Junge. Wie geht’s?“
„Frag mich das noch mal, wenn ich aufgewacht bin. Was haben wir hier?“
„Eine weibliche Tote, Todesursache noch unbekannt, gegen sechs Uhr dreißig von einem Fußgänger entdeckt. Halt dich fest: Man hat ihr sämtliche Haare ausgerissen. Sie ist praktisch skalpiert worden, oder wie man das nennt. Du weißt schon, was die Indianer früher immer gemacht haben.“
„Indianer, hm? Und wo sind die Haare? Beziehungsweise der Skalp?“
„Sieht so aus, als hätte der Mörder sie mitgenommen. Bisher haben wir jedenfalls nichts gefunden.“
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