„Wow“, sagte sie, und er konnte deutlich den Stein hören, der ihr vom Herzen fiel. „Ich hätte nicht gedacht, dass du das so locker siehst. Ich bin echt überrascht. Genau dasselbe habe ich mir nämlich auch gedacht. Das war ein einmaliger Ausrutscher, der nicht wieder vorkommen wird, das sollten wir uns beide versprechen.“
„Ein Mordsausrutscher war das“, lachte er. So leicht würde er sie nun aber auch wieder nicht davonkommen lassen. „Ein sechsmonatiger Ausrutscher.“
„Wieso sechs Monate?“
„Na, falls du nicht mitgezählt hast: So lange ist es her, dass du diesen kleinen Fehler begangen hast.“
„Welchen Fehler?“
„Na, dein Auszug. Und dieser … Kerl.“
Einen Moment lang herrschte Stille in der Leitung.
„Peter, ich rede von letzter Nacht. Das war der einmalige Ausrutscher, der nicht mehr vorkommen wird.“
„Aber wieso … das war, das war doch …“ Er brauchte einen Moment, um seine Gedanken zu sortieren. Seine Eingeweide zogen sich zusammen. Er konnte nicht atmen. Aus dem Telefonhörer drang nur luftloses Schweigen. „Du kommst nicht zu mir zurück?“
„Ganz bestimmt nicht! Entschuldige, das sollte nicht so hart klingen. Nein, ich komme nicht zurück. Das haben wir doch alles schon besprochen. Es hat sich doch nichts geändert und das wird es auch nicht.“
„Ich hab jetzt Haare!“
Sie stöhnte genervt auf. „Das liegt doch nicht an den Haaren! Das habe ich dir auch schon gesagt. Du mit deinen Haaren! Das ist zu einer fixen Idee geworden, Peter, hör auf damit. Du hast jetzt Haare, schön, aber du bist immer noch derselbe. Und ich bin auch immer noch dieselbe. Und wir passen immer noch nicht zueinander. Das ist meine Meinung, und daran wird sich auch nichts ändern, Haare hin oder her.“
„Was war das dann gestern, hm? Nachdem du mich mit meinen Haaren gesehen hast, wolltest du doch gleich mit mir ins Bett!“
„Das stimmt doch gar nicht! Das war der Wein. Oder das Sommerwetter, da gehen schon mal die Hormone mit einem durch. Vielleicht brauchte ich auch nur ein bisschen Trost nach dieser Scheiße mit Christian. Ich weiß es nicht. Deine Haare sehen gut aus, Peter. Aber es lag nicht an deinen Haaren, dass wir gestern im Bett gelandet sind. Und es liegt auch nicht an deinen Haaren, dass das nicht mehr vorkommen wird. Verstehst du das?“
„Nein, das verstehe ich nicht! Du kannst doch nicht einfach …“ Er schluckte und wusste nicht, wie er den Satz zu Ende führen sollte. Die Schwerkraft war aufgehoben, er trieb haltlos mit dem Hörer am Ohr durch das Zimmer. Wie ein Stück Weltraumschrott. Der einzig klare Gedanke war, dass er nicht am Telefon weinen wollte.
Ihre Stimme wurde weicher. „Hey, es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid. Ich hätte das gestern nicht tun sollen, und wenn ich könnte, würde ich es ungeschehen machen. Ich habe einfach nicht nachgedacht. Entschuldige. Pass auf dich auf.“
Er hörte nicht einmal ein Klicken, dann war sie weg.
Dini Leuwarden war jung, hübsch und verzweifelt.
Der Grund ihrer Verzweiflung saß in Form einer älteren Frau vor ihr auf dem Frisierstuhl und warf ihr im Spiegel einen weiteren giftigen Blick zu. Würde dieses Biest nicht jede ihrer Bewegungen verfolgen, Dini hätte ihr schon längst die Schere in den Rücken gerammt. Mehrmals.
„Ach Gott! Nein, nein, nein. Das sieht ja schlimm aus. Junges Fräulein, Ihre Kollegin hat das immer viel, viel besser gemacht als Sie!“
Dini ahnte, was jetzt kam. Sie hatte der Zicke zweimal die Haare färben müssen, weil der erste Braunton nicht so aussah, wie sie es sich vorgestellt hatte. Anschließend musste sie ihr mehrmals die Haare waschen, weil sie behauptete, dass sie ein unangenehmes Gefühl auf der Kopfhaut hätte. Und nun beschwerte sich die Kundin auch noch über den Haarschnitt, obwohl sie Dini kaum freie Hand ließ, sondern ständig Anweisungen gab.
„Sandra ist ja nun mal leider krank“, sagte sie und versuchte, ruhig zu bleiben. „Es tut mir leid, wenn Sie unzufrieden sind.“
„Oh ja, ich bin unzufrieden! Und das zu Recht!“
Beide starrten sich im Spiegel an. Schließlich gab Dini auf und verdrehte die Augen. Sie bemühte sich, nicht zu aufsässig zu klingen. „Also schön, ich werde noch mal nachschneiden.“ Sie legte den Handspiegel beiseite und griff nach der Schere.
„Um Gottes willen, dann machen Sie alles nur noch schlimmer! Sie haben viel zu viel weggenommen, und Sie können wohl kaum die Haare einen Zentimeter länger schneiden!“
Nein, aber ich könnte dich einen Kopf kürzer machen , dachte Dini, damit wäre uns beiden geholfen.
„Los, los, lassen Sie mich bloß raus hier!“, fauchte die Meckerliese und zerrte am Kragen des Umhangs herum. Dini befreite sie und folgte ihr zur Kasse.
„Eigentlich sollte ich Sie verklagen!“ Die Frau wühlte ihre Geldbörse aus der Handtasche hervor. „Ich weiß nicht, ob ich hier noch mal herkomme!“
Damit drehte sie sich um und stolzierte aus der Tür.
„Das klang nicht nach Trinkgeld.“ Tanja stand neben ihr und grinste sie an.
„Nach fünf Minuten hätte ich der Kuh Geld gegeben, wenn sie dann verschwunden wäre.“ Sie sprach leise, damit die wartenden Kunden sie nicht hören konnten.
„Mach dir nix draus. Sandra ist die Einzige, mit der sie kann. Alle anderen versucht sie zum Weinen zu bringen, glaube ich. Blöde Fotze.“
„Tanja! Nicht so laut! Aber du hast recht, sie ist ein Miststück. Naja, ist ja Gott sei Dank bald Feierabend.“
Sie holte den Besen, fegte die abgeschnittenen Haare des fleischgewordenen Alptraums zusammen und kehrte sie zu einer langen, schmalen Öffnung, die sich in Bodenhöhe in der Wand befand. Ein stetiger leichter Luftzug saugte die Haare ein. Dann trat sie zu den wartenden Kunden. Eigentlich wäre ein kleiner Junge als Nächster dran, der neben seiner Mutter in seinem Sessel herumzappelte; aber er schien keine Sekunde stillsitzen zu können, und dafür hatte sie jetzt gerade absolut keine Nerven. Sie wandte sich statt dessen an einen gutaussehenden Mann. Ein gutes Stück älter als sie, aber darauf kam es schließlich nicht an.
„Sie sind der Nächste“, entschied sie, winkte ihn zu sich und führte ihn zu ihrem Platz. Behutsam legte sie ihm den Umhang an. „Wie hätten Sie’s denn gerne?“
„Kürzer.“
Er schien nicht allzu guter Laune zu sein. Die Hoffnung auf ein lockeres Gespräch oder gar einen aufbauenden Flirt konnte sie wohl fahren lassen. Was war heute bloß los mit den Leuten?
„Nur die Spitzen?“
„Nein, richtig kurz. Keine Ahnung. So ungefähr“, sagte der Mann lustlos und deutete auf ein Plakat, auf dem ein männliches Model mit einer Kurzhaarfrisur abgebildet war.
„Oha, so kurz? Sind Sie sicher? Ich frage lieber, denn wenn die Haare erstmal ab sind, dann dauert es Jahre, bis sie wieder diese Länge haben.“
„Mir egal“, antwortete er.
Nach etwas über zwanzig Minuten war Peter Schoh seine letzte Nacht, seine letzte vertane Chance auf ein Leben mit Carola los. Natürlich konnte er die Ereignisse nicht aus seinem Gedächtnis schneiden, aber nun wurde er zumindest nicht bei jedem Blick in den Spiegel daran erinnert. Er sah nun ganz anders aus. Besser. Anders. Das war wieder einmal gleichbedeutend für ihn. Er verließ den Friseursalon mit dem trotzigen, flauen Gefühl einer letzten siegreichen Schlacht in einem längst verlorenen Krieg.
Dini sah ihm etwas länger als nötig nach. Das Haar dieses Mannes war wunderbar voll und kräftig, so kräftig, dass selbst ihre schärfste Schere ihre liebe Not mit dem Durchtrennen gehabt hatte. Außerdem sprangen die Haare immer wieder zurück in ihre Form, jedenfalls bis sie geschnitten waren. Danach ließen sie sich problemlos in eine Frisur wie bei dem Vorbild auf dem Poster formen, sie hatte weder Gel noch Schaumfestiger benutzen müssen. Sie hätte den Typen fragen sollen, ob er etwas Spezielles benutzte, ein Shampoo oder so was. Solche Haare hätte sie auch gerne.
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