„Dass ich die üblichen Entspannungsverfahren nicht abrechne, liegt, nebenbei gesagt, daran, weil man nach der KV-Zulassung eine extra Fortbildung zum Beispiel für Autogenes Training oder Entspannungsmethode nach Jacobsen erwerben sollte. Aber ich hatte schon seit Jahrzehnten, seit ich an der Universität war, damit gearbeitet. Nein, sogar schon davor. In einem Praktikum hatte mir ein leitender Psychologe einer Klinik diese Methoden beigebracht, damit ich sie an Patienten weitergeben konnte. Weiter war ich selbst in verschiedenen Kliniken im Rahmen meiner Leitungstätigkeit und Lehrtätigkeit damit befasst. Ich habe sie sowohl Patienten vermittelt, als auch Studenten der Medizin und der Psychologie. Allerdings nicht nur Entspannungsverfahren, sondern auch Methoden aus der Gesprächstherapie! Was soll ich denn einen Schein erwerben? Das hatte ich auch irgendwann mal als Frage an eine der Mitarbeiter der KV gestellt, was das denn soll? Ich habe Mediziner mit ausgebildet, die haben ihre Zulassung bekommen und ich müsste jetzt einen Schein machen ?”, lege ich Entrüstung in berufspolitische Entwicklungen, bei denen ich und meine Kollegen erleben musste, dass immer mehr vom Teppich, auf dem wir bereits jahrelang, was sage ich, Jahrzehnte gearbeitet hatten, einfach mit ein paar Gesetzchen hier und ein paar Einschränkungen da, abgeschnitten wurde.
„Ein paar Kürzungen links, ein paar Vorschriften rechts und dann konnten Krankenschwestern oder sonstige Berufsgruppen irgendein Training machen, bieten dies wer weiß, wo, an und können abrechnen. Und jemand wie ich, zu dessen Profession so etwas von vornherein gehört, sollte das nicht abrechnen können, weil er dann den Schein nicht hatte! Nee, da habe ich mich verweigert!”, spucke ich den Satz auf den Tisch, angewidert von dem, was uns berufspolitisch aufgetischt wurde, als seien wir die Oberidioten vom Dienst. Maria schweigt weiterhin. Hört mir mit großen Augen zu. Selbst ihre Zigaretten bleiben ruhig und unberührt liegen. Da, wo sie sind, nämlich in der Schachtel.
„Verstehst' du? Es waren viele Teilchen eines Puzzle. Einerseits Festlegungen, die alle betrafen, und andererseits viele unterschiedliche Dinge, die nicht alle Kollegen betrafen. Jeder regte sich dann über etwas anderes auf. Damit war dann keine einheitliche Richtung zu erzielen. Man weiß es ja, Zweige bricht man einzeln. Irgendwann machte jeder für sich seine Arbeit. Und dass wir viel arbeiteten hat vor allen Dingen mit den miesen Honoraren zu tun! Kannst du dir vorstellen, dass wir jahrelang nach der KV-Zulassung für 7 Euro und paar Cent probatorische Sitzungen mit Patienten zu machen hatten? Jede Sitzung dauert 50 Minuten, Maria! Und das ist nur die Spitze dessen, was man sich bis heute uns gegenüber erlaubt hat!”, falte ich resigniert an der noch unbenutzten Stoffservierte herum. Drehe sie von links auf rechts. Stelle fest, dass sie von beiden Seiten gleich aussieht.
„Das ist die wahre Kunst! Uns alle ans Arbeiten gebracht zu haben und das mit extrem schlechten Honoraren - und so sind sie bis heute geblieben...", und lege die Servierte, während ich dies feststelle, noch mal auf die andere Seite.
„Aber insgesamt, was die Abrechnungsziffern angeht: Für Jacobson und Autogenes Training schicke ich Patienten, die es brauchen, in Gruppen außerhalb meiner Psychotherapie. Ich habe keine Lust, die wertvolle Therapiezeit damit zu belasten. Die GOP Ziffer 15 könnte ich, nach dem ursprünglichen Verständnis, das ich mir in den letzten Monaten zugelegt habe, genau für solche Fälle abrechnen. Habe ich aber niemals getan! Wäre mir auch bisher nicht in den Sinn gekommen. Denn die GOP 15 habe ich für diese symbolische Akupunkturnadel analog abgerechnet", stelle ich die Unterschiede meiner Anwendung der GOP 15 dar. Und mir fällt eine weitere Begebenheit ein und erzähle sie Maria:
„Weißt' du, ich habe mal 1 1/2 Tage in Zürich im Holiday-Inn am Flughafen Kloten festgesessen. Eigentlich wollte ich einen Anschlussflug nach New York haben und geplant war, dass wir mal noch eben einen Kaffee am Flughafen trinken. Dann wollten wir einchecken für New York. Aber nein, wir mussten auf einen Spezialisten aus Schweden warten. Sogar eine Nacht im Holiday-Inn schlafen, morgens früh wieder aufstehen und dann noch einmal stundenlang warten, weil der Spezialist aus dem Urlaub vom anderen Ende der Welt erst eingeflogen werden musste! Nur er kannte sich mit den Bordcomputern aus! Der fummelte genau 10 Minuten im Computer herum und konnte dann wieder zurück in seinen Urlaub fliegen - und wir dann endlich auch! Also, was ich damit sagen will ist, wenn ich mit Patienten arbeite, bin ich hochkonzentriert und arbeite punktgenau - ähnlich wie dieser Spezialist in seinem Beruf. Er dürfte königlich bezahlt worden sein. Allein was es kostete, so viele Passagiere des NY- Flugs auf Kosten der Fluggesellschaft im Hotel übernachten und den Spezialisten einfliegen zu lassen, seinen unterbrochenen Urlaub und dann natürlich sein Honorar für seine Dienste zu bezahlen, dürfte eine sechsstellige Zahl gewesen sein. Nun bin ich kein weltweit gesuchter Spezialist, sondern arbeite schön bescheiden in meiner Praxis. Aber die Ergebnisse bei meinen Patienten in Hinsicht auf das, was sie für sich erreichen und wie sie letztendlich aus der Psychotherapie entlassen werden können, sprechen für sich. Zumindest in den meisten Fällen. Es gibt natürlich auch schon mal einen Misserfolg - aber die sind echt gezählt und wenn ich bemerke, ich kann jemanden nicht so unterstützen, wie er das vielleicht braucht, dann sage ich ihm das auch. Ich mache keinen Hokuspokus, ich bin ehrlich und zuverlässig, möchte ich mal zu meinen Gunsten herausstellen...", trumpfe ich ein wenig auf und lache verlegen, wohl wissend, dass mir das nun nicht wirklich hilft und wirklich niemanden interessiert. Zumindest nicht an dieser Stelle.
„Ich bin mit einem veralteten Wertesystem unterwegs! Es klingt lächerlich in der heutigen Zeit...", schiebe ich zerknirscht nach, aber dennoch an ihm festhaltend.
„Aber da bin ich unverbesserlich: Ich stehe zu meinen Werten!”, muss ich jetzt aber doch über mich selbst lachen, sie überhaupt herausgestellt zu haben.
„Na, dann wollen wir mal sehen!”, lacht Maria nun auch. Und wir stoßen mit unseren Wassergläsern an.
„Zu dieser Aussage bezogen auf einen erfolgreichen Arbeitsstil kann ich im Übrigen ein Untersuchungsergebnis mitteilen: Als Psychotherapeut ist man entweder im hohen Maße erfolgreich, oder man ist im hohen Maße nicht erfolgreich und plätschert vor sich. Vor ein paar Jahren hat mich dieses Untersuchungsergebnis doch ziemlich erstaunt, dass dies so sein soll. So. Was soll ich sagen? Meine Patienten sind äußerst zufrieden mit diesem Arbeitsstil und den Ergebnissen. Und ich setze für Interventionen die GOP 5 an und für Hausaufgaben, die sich immer strikt individuell am Patienten ausrichten, die GOP 15. Beide, die GOP 5 und die GOP 15, sind sozusagen Spezialisten-Ziffern, wenn ich es jetzt auf das Bild des schwedischen Computerfachmannes beziehe. Jeder Spezialist in der Welt wird als Spezialist bezahlt. Die beiden Ziffern besagen: Da ist punktgenau gearbeitet worden. Aber, wie du vielleicht weißt, die GOÄ-Ziffern sind jahrzehntelang nicht erhöht worden, noch an die Inflation des Geldes angeglichen worden. Aber wenn sich kein anderer Gedanken macht, dann muss es zumindest gestattet sein, dass ich mir selber Gedanken zum Arbeitsstil mache, den ich anwende!”, versuche ich mir noch ein kleines Recht in meinem Fachbereich herauszunehmen, wo vieles schon einfach gestrichen worden ist. Sang und klanglos. Und mir gehen die vielen Jahre ununterbrochenen Lernens immer neuer Therapiemethoden und Ausbildungen durch den Kopf und erzähle Maria nun die Hintergründe, die sie bislang von mir niemals hörte, wenn ich mitteilte, ich hätte keine Zeit! Wäre das ganze Wochenende in München oder fliege nach Nizza oder Zürich, sei in Aachen oder in Holstein oder sonst irgendwo. Klar hatte ich ihr Anekdötchen aus den Ausbildungen erzählt. Aber ich setzte mich ja nicht hin und blätterte ihr mal eben ohne Grund und Anlass die Entwicklungen aus meinem Berufsbereich vor. Jetzt war der Zeitpunkt da und der Anlass, ihr ausführlicher zu erzählen, was bei uns eigentlich so vor sich geht:
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