„Ach‘ du meine Güüthhe!”, stößt sie aus, „welche Diagnose?“
„Essstörung.“
„Klar, die Mutter setzt das Messer jetzt gegen dich“, spricht sie gelassen eine Weisheit aus.
„... und trifft ihre Tochter. Sie will niederstrecken!“
„...sie läuft Amok...!“
„Richtig! Sie mobilisiert jetzt einen Rechtsanwalt und ihre Tochter, meine Patientin, müsste einwilligen, gegen mich zu klagen.“
„Unglaublich...!“, stößt Maria entgeistert aus.
„Ja, und will die Tochter das denn?“, setzt sie nach.
„Nein! Natürlich nicht! Die therapeutische Beziehung ist gut!“, antworte ich entschieden, wütend auf diese keinen Spielraum bietende Konstellation und im gleichen Maße resigniert, weil die Situation wirklich verfahren erscheint und gehe mit einer Hand gedankenverlorenen, die Finger zu einer Forke gespreizt, durch meine Haare, kämme sie sozusagen fort aus dem Gesicht Richtung Hinterkopf, als könnte ich damit die Dämonen in meinem Kopf gleichfalls verbannen oder gar vertreiben.
„Ja“, sage ich dann gedehnt, „diese ganze Geschichte will ich wieder aus meinem Leben raushaben. Die Mutter sieht ihre Felle wegschwimmen, wie du schon richtig vermutest. Seit der ersten Sitzung fühlt sie Eifersucht auf mich, von der ich bereits in der zweiten Sitzung Kunde bekam. Ich dachte mir nicht sehr viel dabei. Notierte sie innerlich bei mir. Punkt. Schließlich reagieren Eltern oder Partner oftmals zunächst empfindlich darauf, wenn jemand Externes automatisch mit ins Familien- oder Partnersystem rutscht. Ebenso verfliegt die Eifersucht dann auch schnell wieder, wenn sie merken, dass sie ihre Autonomie und Sicherheit behalten, sie also nicht angegriffen oder runtergemacht werden. Meine Patientin war so begeistert von der gemeinsamen Arbeit. Und das hat sie ihrer Mutter in der Küche ziemlich gleich nach der ersten Sitzung erzählt. Die Mutter reagierte mit:
„Jetzt liebst du mich nicht mehr! Habe ich ja immer gesagt, du verrätst mich! Du bist ein undankbares Kind, habe ich ja immer gesagt und gewusst...!!!“
„Wie konnte das passieren, dass es so weit kommt?”, setzt Maria an um Pfosten zur Orientierung für sich zu positionieren, „ich meine jetzt nicht die ersten Sitzungen, sondern eine solche Situation, wie du sie mir kurz gerade geschildert hast?“
„Warte. Warte. Willst du die Geschichte wirklich hören?“
„Schließlich musst du jeden Tag soviel Mist hören, wie ich“, denke ich bei mir und lasse es mitschwingen, denn wir könnten auch über den neuesten Nagellack und was in diesem Frühjahr Mode ist, sprechen. Dieses Thema interessiert uns nämlich ebenso sehr. Laut fahre ich fort:
„Du musst mir versprechen, zu schweigen. Es hängt zu viel für meine Patientin davon ab...!“
„Wir keeeennen uuuns laaahange genug, um zu wissen, dass ich schweeeiiiige. Looos, nuuun erzääählllt schon...!“
„Versprochen?“
„Versprochen!“
Schweigen.
Ich greife zu meiner Tasche und fördere einen weißen, versiegelten Umschlag zu Tage.
„Dann gebe ich Dir in diesem verschlossenen Umschlag die entsprechenden Daten, die du, falls mir etwas passieren sollte, der Polizei übergibst! Ich habe ihn versiegelt.“
„Biiiittttttte? So schlimm?”, ihre Stimme geht hoch, überschlägt sich fast, wirkt schrill.
„Ja.“
Ich schiebe den Umschlag langsam über den Tisch.
„Meiner Rechtsanwältin wollte ich ihn nicht gegeben!”, erläutere ich.
„Sie hat bisher das Mahnverfahren durchgeführt und sich in meinen Augen nicht als tauglich erwiesen, in einer Gerichtsverhandlung meine Position eindeutig und klar darzustellen. Meine Stimme ging immer hoch und ich wurde laut. Ich kann es nicht haben, wenn mir jemand nicht auf der Höhe meines Gedankenstranges folgt, schon gar nicht, wenn er, wie in diesem Fall, meine Interessen vertreten soll und sich dann lediglich als formal akademisch studiert und mit Fachausweis brav und abgezirkelt äußert und darstellt.“
„Na, du bist aber nicht begeistert von ihr“, lehnt sich Maria urteilend auf dem Lederstuhl zurück und erwartet mehr an Information.
„Nein. Sie folgt meiner Ansicht nach der falschen Spur. Zeigt keine Bereitschaft zur zusätzlichen Informationsaufnahme. Die ist aber in diesem Falle oberstes Gebot. Ich kann mich irren. Aber das glaube ich nicht“, setze ich überzeugt von meiner Einschätzung nach. Aber, die Möglichkeit eines Irrtums meinerseits nicht ausschließend und sie nun nicht als unbedarft stehenlassen wollend, weil sie auch das nicht ist, setzte ich abschwächend nach:
„Aber das umreißt schon generell Probleme der heutigen Zeit: Der eine Fachbereich weiß‘ um den Kenntnisstand des anderen nicht. Sie wirken nicht zusammen! Ob Medizin und Psychotherapie, oder Rechtswissenschaft und Psyche. Sonst wäre es ja nicht möglich, dass zahllose Opfer vor Gericht wieder zu Opfern werden, mal nebenbei bemerkt.“
„Da sagst‘ du was!”, unterbricht mich Maria und nickt. Unbeirrt fahre ich fort:
„Aber, in Bereichen, in denen fachübergreifend unterschiedliche Disziplinen integriert werden, wo sie meiner Meinung nach verboten werden sollten! Wie zum Beispiel medizinische und psychotherapeutische Inhalte oder auch pflegerische Leistungen strikt in Zeitfenster zu zwängen, um damit ökonomisch Einsparungen zu erwirtschaften, weil in ihnen Leistungen in einer bestimmten Stückzahl, wie an einem Fließband erbracht werden sollen! Wie arm und dämlich muss so eine Kultur sein, in der das stattfindet? Das gehört verboten! Da bestimmen Wirtschaftswissenschaftler über medizinische Inhalte, legen Behandlungen und Leistungen fest, die zu einer bestimmten Diagnose bezahlt werden! Das kann nicht sein! Und man findet in einem solchen Gesundheitssystem, dass die meisten Krankheiten mit Mitteln der Pharmazeutischen Industrie abgedeckt werden können. Wie krank ist denn so ein Denken? Nicht der Mensch erschafft Gesellschaft und Kultur, sondern Gesellschaft und Kultur erschaffen Menschen, die das, was man sich so vorstellt, nicht mehr verkraften! Der Stoffwechsel zwischen beiden Positionen stimmt nicht mehr! Ebenso wie Juristen über den Weg der Erschaffung von Gesetzen Inhalte festschreiben, die rechtswirksam nur zu Problemen und Unfrieden führen! Und da, wo sie Gesetze erschaffen müssten, die für alle die gleichen Inhalte festschreiben, da wird nichts getan! Der Mensch wird zerrissen in Körper, Psyche und Seele. Geht es um Gewaltdelikte, die vor Gericht verhandelt werden, passen Gesetz, Tat, Verfahrensvorschriften und Opfer nicht zusammen, weil nichts entsprechendes im Gesetzestext zu finden ist. Denken und Fühlen von Opfern wird nicht berücksichtigt! Es wird nicht grundlegend über Schutz nachgedacht!“
Ich nehme mein Glas, komme ins Nachdenken, ebenso wie Maria, die es mir gleich tut, ihr Glas ergreift und mich gespannt anschaut und dann meint:
„Mensch, du solltest doch wieder an die Universität und Vorträge halten!”, lächelt sie mich an, und verweist darauf, was sie mir schon jahrelang sagt. Aber, wie ich das auch noch zeitlich machen soll, weiß ich nicht. Und ich weiß, wovon ich spreche!
„Komm‘ führ mal deinen Gedankengang zu Ende!”, ermuntert sie mich, weil sie sieht, wie es in mir arbeitet.
„Manchmal habe ich das Gefühl, Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, lassen ihren Kopf zu Hause und ihr gesunder Menschenverstand kommt erst dann wieder zum Vorschein, wenn sie ihre Kanzlei oder das Gericht verlassen haben! Würde man in naturwissenschaftlichen Fächern so arbeiten, wäre niemals ein Auto, Flugzeug oder sonst was gebaut worden. Aber da, wo es um den Menschen geht, wird alles zerstückelt. So, als könnte man eine Zeitung in kleine Stücke zerreißen und erwarten, man könne den ganzen Artikel lesen. Dann wird ein Schnitzel aufgehoben und gesagt Das steht da aber gar nicht darauf, was du eben gesagt hast! Nee, diese Art kann ich gar nicht mehr ertragen. Nicht auf dem Hintergrund, den ich täglich von Menschen als Erfahrungs- und Leidenshorizont höre und spüre. Die Korinthenkacker haben Hochsaison, kommen an der falschen Stelle mit Logik und glauben sich noch im Recht! Und das Schöne: Sie bekommen es oftmals! Also, die Rechtsanwältin ist mir zu sehr mit Gesetzestexten im Kopf zugepflastert, schaut nicht mehr rechts, noch links, so will mir zumindest scheinen! Das nützt mir jetzt nicht viel!“
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