Tausendmal kotzen gehen ließ .
„Aber nein", jagt durch mich hindurch, als ich mich jetzt endlich selbst wahrnehme, aus meiner Verkrampfung löse, nachfühle, was ich gerade sah, „das war kein Wille! Automatismus der Skelettmuskulatur! Angstvoll zusammenhalten, was droht, auseinander zufallen. Krampf, der sich löst!", atme ich nun dirigiert durch meinen Verstand, ihre Antwort aufnehmend, das Geschehen wahrnehmend, aus. Meine Anspannung nun bewusst spürend, meine Schultern auch wahrnehmend und lösend, die junge Frau fühlend, für sie mitatmend. Sie beatmend. Sie stützend. Tragend. Wiederbelebend. Leben einhauchen. Ummanteln. Schützen. Ein Gefühl, wie im Flugzeug, wenn der Pilot zu niedrig fliegt und ich fühle, ich bin das Flugzeug, ziehe es, mich selbst, höher, weil es sonst den Boden berührt und zerschellen könnte, ich zerschellen könnte, sie zerschellen könnte, atme, bis der Atem zu ihr gelangt, und ich sehe, sie atmet. Lebt. Sie bewegt sich. Rückt den Stuhl, schiebt ihn hinter sich. Erhebt sich. Drückt sich hoch. Gerade.
Hölzern, langsam, zitternd.
Füße tastend auf dem Holzboden.
Wie auf Eis, fühlend, ob es trägt.
Die Frau im grauen Hosenanzug springt plötzlich auf, schreit, vergisst sich.
Irritiert schauen andere Zuhörer sie an, fragen sich, wer das ist.
Was bis gerade noch apart an ihr hätte wirken können, verliert augenblicklich jeglichen Charme.
Jegliche Bedeutung.
Leuchtet nur schrill.
Abstoßend.
Alles, was sie sonst so sehr bemüht ist, aufrecht zu halten, zerbröselt im Ton ihrer Stimme, fällt zu Boden, zertreten, zerstampft, vernichtet. In Anschuldigungen brennt sie die letzten Reste der hart umkämpften Beziehung wütend nieder.
Quält die junge Frau nun öffentlich, statt geheim.
Mit Drohungen der Versagung von Geld, Familie, Geschwistern, von allem, was die junge Frau gern in ihrem Leben gehabt hätte...
„Du Lügnerin!“
„Du verdammtes, undankbares Mistvieh!“
„Wofür habe ich mich geopfert?“
„Immer habe ich alles für dich gemacht!“
„Habe auf alles verzichtet, dir alles gegeben...“
„Gezahlt, gezahlt, gezahlt....!!!“
Sie schreit, der Kopf schwillt zur tödlichen Bombe an. Ohne Luft zu holen zischt sie kalt, dem Ersticken nahe:
„Du bist ausgeschlossen aus unserer Familie.“
„Was sollen denn die Leute hier denken?“
„Du hast mich und deine Familie beschämt.“
„Du darfst nie wieder zu uns kommen!!!“
„Mit dir haben wir nichts mehr zu tun!“
„Du wirst schon sehen, was du davon hast!“
Der Hass der Frau, der Mutter, walzt alle sonstigen Regungen im Saal nieder.
Erstarrt.
Das ist es , was die junge Frau jahrelang erdulden musste.
Die Sonne ist verschwunden. Eisblumen blühen an plötzlich kalten Fenstern, manche ziehen ihren Mantel enger um sich, ziehen die Arme zur Brust.
Nun kreideweiß, atmet die Frau schwer, gönnt sich einen Atemzug, lässt ihre Glieder auf der Bank gehen, wohin sie wollen.
Der Richter, selbst gelähmt von dem lauten Tumult, und offenbar nicht auf ihn gefasst gewesen, besinnt sich, sammelt sich, wird wach.
Reagiert Sekunden zu spät, wirkt fast albern, als er sich nun endlich besinnt.
Er ergreift seinen Hammer und schlägt hart auf den Tisch, obwohl gerade tödliche Stille herrscht, und schreit:
„Ruuuhe!“
Zehntelsekunden später weist er die Gerichtsdiener mit einer Geste an, die Mutter hinauszuführen, die, nun wieder gefasst, lauthals krakelt und kreischt, in Versuchung, die krampfhaft in Händen gehaltene Tasche, die sie ständig wütend hebt und senkt, und in Richtung der jungen Frau schüttelt, auch auf sie zu schmeißen:
„Das habe ich nicht verdient. Schau, was du aus mir machst!!!“
„Jetzt zahle ich auch noch diese Kosten....!“
Die junge Frau ist kreideweiß.
Zu Eis gefroren, setzt sich erneut unter Anstrengung auf der Bank zurecht.
Ihre Ohren von Innen unter großer Konzentration zugehalten, nach Außen ein teilnahmsloses Gesicht ohnmachtsnahe in den Saal schweben lassend, wirkt sie, als könne sie jeden Augenblick in Tausend Stücke zerfallen unter dem Schwall der Beschimpfungen. Wie Häuser im Krieg, die von Bomben getroffen, noch ein paar Sekunden im zeit- und luftleeren Raum stehen und dann, wie von Geisterhand berührt, in sich zusammensacken.
Der Gerichtsdiener bedeutet den Anwesenden, sich zu erheben.
Die junge Frau atmet ein.
Hält ihn an.
Der Richter fällt sein Urteil:
„Die Beklagte wird verurteilt, die Forderung der Klägerin binnen 10 Tagen an die Klägerin zu zahlen. Die Gerichts- und Anwaltskosten trägt gleichfalls die Beklagte.“
Damit ist die Verhandlung geschlossen.
Der Hammer fällt.
Stille.
Sie atmet aus.
Der Kopf fällt zur Brust.
Die Schultern hängen.
Mit den Händen streicht sie erschöpft über ihre geschlossenen Augen.
Reibt sich ihr Gesicht.
Wischt Tränen nachlässig und gleichgültig fort.
Sekunden später erstes Gemurmel.
Bewegung.
Auflösung.
„Gott sei Dank", stoße ich innerlich unwillkürlich ein lautes Dankgebet aus. Die Tränen der Anspannung fließen mir nun unkontrolliert über mein Gesicht.
„Sie hat es geschafft!” , jubelt es in mir.
Jetzt fällt mir ein Stein vom Herzen!
Die Beklagte ist meine Patientin.
Sie hat vor Gericht gegen mich verloren.
Wir treffen uns am frühen Abend in einem Restaurant. Es liegt ziemlich genau zwischen den beiden Städten, in denen wir wohnen. Ich warte, bin etwas zu früh.
Es ist dunkel in der Grünanlage.
„Na, es ist ja auch Anfang März“, schießt mir durch den Kopf, „da ist es immer noch dunkel um diese Zeit. Was will ich denn da sehen?“
Dennoch versuche ich durch eines der großen Fenster zu schauen, drehe den Kopf über meine Schulter nach hinten rechts und blicke in skurril wirkendes, nacktes Geäst kleiner Bäumchen, die durch die Innenbeleuchtung matt beschienen aus der Dunkelheit hervortreten. Graue Eminenzen, die bei der kleinsten Bewegung meines Kopfes wie ertappt wieder zurücktreten.
Nur der Weg zum Parkplatz ist hell beleuchtet. Die entfernt und gegenüber dem Fenster, an dem ich reserviert hatte und nun saß, liegenden Fenster geben spartanisch, aber dennoch imposant den Blick frei auf leuchtend weiße Pflastersteine. Sie markieren den Weg vom Parkplatz zum Eingang des Restaurants. Die Steine wirken von hieraus wie morgens gescheuert. Halbhohe Buchsbaumhecken säumen und begrenzen den Weg, der durch raffiniert verdeckte Lichtquellen erleuchtet wird.
„Wie sieht der Garten nun aus?”, frage ich mich, obwohl ich genau weiß, da ist sonst nichts weiter zu sehen als das gerade an Eindruck erhaschte. Die Erinnerung vom letzen Sommer und Herbst, mit den noch lauen Abenden, ja, fast gedehnt bis in die Nacht hinein, sind mir noch gut in Erinnerung. Ich rieche förmlich noch Blumen, Wald und das nahe Wasser, und wie Gerüche mir zärtlich wie Parfüm um Gesicht und Nase streichen. Ich liebe es, wenn die Hitze des Tages geht und Gerüche kühl und sehnsüchtig durch die Abendluft wehen. Wie Blätter im Herbst ein letztes Mal aufleuchten bevor sie fallen.
Aber die Scheiben spiegeln ansonsten wegen der Lichtverhältnisse im Raum nur das Interieur wieder, lassen mich so gut wie nichts erkennen.
Ich sehe mich.
Allein am Tisch sitzend, wartend, suchend.
„Na, vielleicht sehe ich ja auch Gespenster", geht mir durch den Kopf.
Diese Sache mit meiner Patientin lässt mir keine Ruhe.
Das habe ich auch noch nie erlebt: Eine Mutter, die ihre Tochter, und nicht nur diese, systematisch zerstört und das Beste, mich hineinzieht, wo ich ihrer Tochter geholfen habe und sie weiterhin behandle, und zwar mit gutem Erfolg! Nicht zu fassen! Ich fühle mich wie eine Schachpuppe, die nun logisch zu funktionieren hat. Zwar kann ich mir so einen Automatismus selbst abverlangen, wenn ich das will, nun aber muss ich mich einer fremden Quelle fügen. Und das widerstrebt mir. Sogar sehr! Es fällt mir keine weitere Steigerung dafür ein: So gar sehr, sehr!
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