»Ich orientiere mich am Geruch des Meeres. Kannst du das Salz riechen? Es kommt ganz deutlich aus dieser Richtung.«
Die Gorgens schnüffelten intensiv, aber keiner von ihnen vermochte das Meer zu riechen.
Sie erreichten eine weitere Gabelung und genauso wie beim ersten Mal wählte Ancrus zielsicher den richtigen Weg. Drei weitere Abzweigungen ließen sie hinter sich. Die Gänge wurden schmaler, die Luft wurde kühler, und das Höhlenlabyrinth schien immer größer und unüberschaubarer zu werden. Uder war der erste, dem klar wurde, dass er die Orientierung verloren hatte, und er ohne Ancrus nie wieder hinaus finden würde. Er überlegte lange, ob er ihn nicht fragen sollte, ob es nicht besser gewesen wäre, die Gänge, die sie benutzten, zu markieren, da blieb Ancrus plötzlich stehen und horchte.
»Was ist?«, fragte Spat.
Ancrus regte sich nicht und blieb eine Weile stumm. Er schien etwas gehört zu haben. »Irgendetwas stimmt nicht«, flüsterte er. »Es ist so ruhig hier.«
Er horchte wieder in die Dunkelheit, die vor ihnen lag. »Seid mal ganz still. Hört ihr das nicht?«
Die Gorgens verneinten stumm.
»Dann habe ich mich wohl geirrt. Ich dachte, ich hätte eine Stimme gehört.« Aber Ancrus hatte sich nicht geirrt.
Sie setzten sich wieder in Bewegung und kamen alsbald in einen Bereich, in dem viele kleine Räume zu ihrer Linken und Rechten den Stollen säumten. In jeden schauten sie hinein, fanden jedoch nichts von Interesse vor.
»Wir müssten die große Höhle, in der ich einst war, bald erreicht...«, Ancrus sprach den Satz nicht zu Ende, denn nun hörten sie alle eine Stimme aus dem Dunkel. Es war mehr ein Wehklagen, ein Wimmern. Die Gorgens fürchteten sich, aber Ancrus drängte sie, weiterzugehen.
Sie folgten dem steten Wimmern, das nur durch unverständlich gesprochene Worte und Pausen unterbrochen wurde. Ancrus, der voran ging, hatte einigen Abstand zwischen sich und sein Gefolge gebracht. So erreichte er als erster die Quelle des unheilvollen Wimmerns. Spat, Uder und die fünf anderen hechteten ihrem Anführer hinterher, bis sie schließlich Ancrus einholten, der neben einer Gestalt kniete. Einer Gestalt, welche die Gorgens noch nie in ihrem Leben gesehen hatten. Es war ein Totengräber. Er saß auf dem Boden an die Stollenwand gelehnt. Sein mit grauen Panzerschilden bedeckter Körper glänzte im Fackelschein der Gorgens. Sein Kopf war breit in der Horizontalen und schmal in der Vertikalen. Die Augen standen weit auseinander, und an beiden Kopfenden ragte je ein langer Fühler schlaff heraus.
Nachdem die Gorgens ihren ersten Totengräber eine Weile betrachtet hatten, legte sich ihre Beklemmung ein wenig, weil, anders als sie es befürchtet hatten, der Totengräber nicht angsteinflößend aussah. Schon gar nicht in seinem benommenen Zustand.
»Was ist mit ihm?«, fragte Uder.
Ancrus antwortete nicht, sondern bedeutete dem Gorgen, still zu sein. Der Totengräber nuschelte etwas Unverständliches. Und selbst das kostete ihn soviel Kraft, dass er anschließend in sich zusammensackte. Ancrus packte ihn und hielt ihn aufrecht.
»Was hast du gesagt? Wiederhole es noch einmal!«, forderte er den Totengräber auf.
»Sie hat mir den Blick genommen. Ich habe nur noch sie gesehen. Ihr Licht tut meinen Augen weh«, flüsterte das Geschöpf.
»Was bedeutet das? Wer hat dir den Blick genommen?«
»Sie lässt niemanden gehen. Ich konnte mich aus ihrem Bann befreien. Aber ich bin zu schwach um zu fliehen. Haltet euch von ihr fern! Ihr Licht ist das Verderben«, sprach der Totengräber. Sein Kopf fiel auf seine gepanzerte Brust. Ancrus war unerbittlich und zog den breiten Schädel wieder hoch, sodass er ihm ins Gesicht sehen konnte.
»Wer hat dir das angetan? Wer? Sprich!«
Der Totengräber zuckte plötzlich und machte einen langen röchelnden Atemzug.
»Es war...«
»Sag es!«
»...Xali...«, wisperte der Totengräber und erschlaffte. Das Leben war aus ihm gewichen.
Ancrus legte den toten Körper behutsam auf den Boden und sah danach in die entsetzten Gesichter seiner Mitstreiter.
»Was hat das zu bedeuten?«, wollte Spat wissen.
»Ich weiß es nicht. Aber was immer es ist, es wird unsere Mission kaum leichter machen.« Ancrus überlegte kurz. »Wie dem auch sei, wir müssen weiter. Es ist nicht mehr weit bis zu der großen Höhle, dem Zentrum.«
Ancrus ging weiter in das riesige Labyrinth hinein, und die Gorgens folgten ihm.
Die Gänge wurden breiter und die Räume, die sie durchquerten, größer. Überall lagen Sachen herum, zerschlagene Tische und Stühle, Werkzeuge, Schriftstücke und allerlei anderes. Von weiteren Totengräbern keine Spur.
Für einen Augenblick kam Ancrus der Gedanke, umzukehren. Was immer hier geschehen war, hatte das Leben im unterirdischen Reich der Totengräber zum Stillstand gebracht.
Ein schwaches Grollen durchzog die Gänge und drang bis an die Ohren der Gorgens hervor. Dann ein weiteres.
»Was ist das, Ancrus?«, fragte einer.
»Das ist das Meer. Die Wellen brechen sich über uns. Ich erinnere mich an dieses Geräusch. Wir sind fast am Ziel. Dort hinten müsste es zu der Höhle hinaufgehen.« Ancrus zeigte auf einen Treppenaufgang, der einen Bogen beschrieb. »Mir nach!«
Kaum hatten sie die ersten Stufen erklommen, vernahmen sie eine Stimme, die etwas zu singen schien.
»Hört ihr das? Das muss aus der Höhle kommen«, sagte Ancrus. Er drehte sich um und erschrak. Die Fackeln von Spat und Uder waren erloschen. Im fahlen Licht seiner eigenen Fackel sah er, wie dunkle Gestalten seine sieben Begleiter fast geräuschlos fortzerrten. Die Gorgens waren blitzschnell geknebelt und überwältigt worden. Nachdem Ancrus den ersten Schrecken überwunden hatte und einen klaren Gedanken fassen konnte, wollte er seinen Leuten zu Hilfe eilen, aber eine Gestalt schoss aus einer dunklen Nische auf ihn zu, hielt ihm Arme und Flügel am Rücken fest und stieß ihn unsanft die Treppe hinunter. Unten angekommen wurde er sogleich von zwei anderen Gestalten in Empfang genommen, geknebelt und zusammen mit den anderen weggezerrt.
Ancrus konnte sich nicht merken, wohin er und seine Gorgens gebracht wurden, dafür ging alles viel zu schnell. Sie wurden in einen dunklen kleinen Raum geschubst und in einer Reihe aufgestellt. Die Entführer positionierten sich hinter ihnen. Ancrus glaubte immer noch, das Meer über sich hören zu können, sodass er annahm, dass sie sich nicht weit entfernt haben konnten.
Eine riesige Kerze aus Bienenwachs wurde entzündet.
»Versprecht mir, dass ihr nicht schreien werdet, wenn wir euch die Knebel abnehmen«, sagte eine Stimme hinter ihm.
Ancrus nickte heftig. Er bekam durch den Knebel schlecht Luft, genauso wie die anderen Gorgens.
Der Knebel wurde entfernt. In den Schein des Kerzenlichts trat ein alter Totengräber, was Ancrus daran erkannte, dass dessen Panzer stark brüchig und die Risse mit grünem Moos bewuchert waren. Einer seiner Fühler war verkümmert. Er kannte diesen Totengräber. Es war derjenige, der ihm damals vor vierzig Jahren die Chance zur Freilassung ermöglichte.
»Du bist es also, Ancrus«, sagte der Totengräber leise. »Ich hätte nicht gedacht, dass du jemals freiwillig hierher zurückkehren würdest. Bist du gekommen, um dich an unserem Leid zu ergötzen?«
Ancrus versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren. »Ich verstehe nicht. Wovon sprecht Ihr? Was ist hier los?«
»Wir sind dem Untergang geweiht. Das fürchteten wir schon immer, aber jetzt ist es Wirklichkeit.« Der alte Totengräber sah mit leerem Blick in die Kerzenflamme. »Wir sind heimgesucht worden. Von einer Banshee. Sie bringt den Tod.«
Die Gorgens wechselten verängstigte Blicke.
»Das verstehe ich nicht. Was ist eine Banshee?«
Der alte Totengräber löschte das Kerzenlicht mit seiner Scherenhand und nahm einen Stein aus einem Loch in der Höhlenwand. Eine schwaches Licht drang durch die kleine Öffnung.
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