Die Präfektin nickte Avest zu. Dieser ging zu einer Vitrine und holte eine kleine Holzschachtel heraus. Er drückte sie Antilius ungeöffnet in die Hand und bedeutete ihm, hineinzuschauen.
Antilius öffnete zögerlich den Deckel und holte ein faustgroßes Stück Kristall heraus.
»Dies hat Tirl vor einiger Zeit in der Nähe des Sees gefunden. Er brachte es zu uns, damit wir seinen Ursprung analysieren konnten«, sagte Avest, der den Kristall in Antilius' Händen wachsam im Blick behielt.
»Er fühlt sich ganz warm an. Stammt er vom Dunkelträumer?«
»Er gehörte auf jeden Fall einem Uwor. Ob er vom Dunkelträumer selbst stammt, können wir nicht sagen. Seid vorsichtig damit! Es ist nicht nur das größte, sondern zugleich auch das einzige Fossil, das diese Wärme abstrahlt«, sagte Avest nervös.
Aber Antilius hörte gar nicht mehr zu. Er war von diesem Stück Kristall fasziniert und konnte seinen Blick nicht abwenden. Es war das erste Mal, dass er ein Stück Geschichte berühren konnte. Und diese Berührung löste in ihm etwas aus, das ihm ungewohnt, aber nicht fremd erschien. Es war so, als ob dieser Überrest eines Uwors eine Erinnerung in ihm auslösen wollte. Doch seine innere Blockade, die er sich nicht erklären konnte, verhinderte jegliche Reminiszenz. Er fluchte deshalb innerlich. Aber zum ersten Mal hatte er das Gefühl, dass er endlich den richtigen Weg einschlagen würde, wenn er der Spur des Dunkelträumers folgen würde.
Die Präfektin bemerkte Antilius' geistige Abwesenheit und wollte ihn wieder auf seine zukünftige Aufgabe lenken. Sie bedeutete Avest, fortzufahren.
»Tirl sagte, dass es an diesem See noch mehr Bruchstücke dieses Kristalls geben würde. Dieser hier ist das größte, das er gefunden hat. Er ist sich absolut sicher, dass wir an jenem Ort mehr über die Uwore und über den Dunkelträumer erfahren können als jemals zuvor. Mit ein wenig Glück hat er das bereits getan, wenn Antilius ankommt. Den Kristall werdet Ihr mitnehmen und Tirl zurückgeben, damit er weiß, dass er Euch trauen kann.«
Antilius riss sich aus seinen Gedanken los. Er legte den Kristall wieder zurück in das Kästchen, schloss den Deckel und seufzte. »Ich hoffe inständig, dass ich endlich mehr erfahren kann.
Wie schätzt Ihr diesen Tirl ein? Kann man ihm wirklich trauen?«
»Er ist brillant und absolut loyal. Aber er ist auch ein wenig sonderbar. Doch das werdet Ihr schon selbst herausfinden«, sagte die Präfektin und lächelte dabei ganz kurz.
»Ich hoffe, dass ich noch genug Zeit habe. Die Reise nach Arbrit mit einem Schiff dauert wenigstens acht Tage, günstige Windverhältnisse vorausgesetzt.«
»Eure Reise werdet Ihr nicht mit einem Schiff antreten. Wir haben da ein... anderes Transportmittel, mit dem es deutlich schneller gehen wird.«
»Was ist es?«
»Ich werde es Euch zeigen, wenn Ihr bereit seid, aufzubrechen. Wenn es noch etwas gibt, das Ihr vorher erledigen wollt, dann wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, es zu tun.«
»Ich habe alles, was ich benötige«, sagte Antilius. Da musste er auch nicht lange überlegen, denn er besaß nichts mehr von dem, das er nach Truchten mitgebracht hatte. In der Herberge hier auf den Ahnenländern waren er und seine Gefährten mit neuer Kleidung und ein paar Utensilien, wie Feldflaschen, Messern und anderen Dingen für die kommenden Tage ausgestattet worden.
Antilius besaß daher nichts Eigenes mehr, bis auf eine Ausnahme. Es war ein kleiner Gegenstand, der in ein Leinentuch eingewickelt war, und den er in Verlorenend erhielt, kurz bevor er jenen unerklärlichen Ort verlassen musste. Bestimmt ein halbes Dutzend mal in den vergangenen Tagen war er versucht gewesen, das Tuch zu entfalten und sich den Inhalt anzusehen, aber das kleine Mädchen, von dem er das mysteriöse Etwas erhalten hatte, sagte, er dürfe es nur enthüllen, wenn er sie wiedersehen würde. Und deshalb wagte er nicht, hineinzusehen. Er ahnte, dass dieser Gegenstand eine hohe Bedeutung hatte, die er sich heute noch nicht im Entferntesten vorstellen konnte, selbst wenn er ihn sich ansehen würde. Jener Gegenstand würde sein Schicksal entscheiden, wenn er am Ziel seiner langen Reise war.
Wo immer dies auch sein mochte.
Während sich Haif vor dem Eingang zur Pinakothek mit zunehmendem Missmut die Beine in den Bauch stand, war man sich im Inneren mittlerweile über die weitere Vorgehensweise einig.
Pais und Antilius wurde zum ersten Mal im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen geführt, womit sie es zu tun hatten, und was geschehen würde, wenn der Dunkelträumer zurückkehren würde. Obwohl die Präfektin und Avest ihnen alles, was sie über die ferne Vergangenheit wussten, wahrheitsgemäß erzählt hatten, so wurde Antilius das Gefühl nicht los, dass nicht zuletzt durch die Lückenhaftigkeit des überlieferten Wissens etwas Entscheidendes in der Geschichte fehlte.
Auch Pais schien denselben Gedanken zu haben. Mehrfach fragte er nach, ob dies auch wirklich alles gewesen sei, was man heute an Informationen besaß. Auch er konnte nicht recht glauben, dass sich alles so abgespielt hatte, wie es die letzten Bewahrer dieses Geheimnisses zu glauben wussten.
Geschichte wird von Siegern geschrieben, heißt es. Das ist eine der wenigen Konstanten, gegen die man nichts ausrichten konnte. Man würde nie die volle Wahrheit erfahren, und sei es auch nur aufgrund das Weglassens von bestimmten Ereignissen. In diesem Falle hatten es die Vorfahren geschafft, die Geschichte totzuschweigen und nur das, was wenige Auserwählte wissen sollten, weitergegeben.
Antilius war sich dieses Problems wohl mehr bewusst als die Präfektin oder Avest. Denn er war der Einzige, der Verlorenend betreten und es wieder mit düsteren Informationen verlassen hatte. Wenn es wirklich wahr wäre, dass sich Ilbétha noch irgendwo auf Thalantia befand - lebendig - dann wäre die Bedrohung durch den Dunkelträumer noch größer, als irgendjemand sich hätte vorstellen können. Denn Ilbéthas Macht war in den falschen Händen eine gefährliche Waffe, das jedenfalls vermutete er.
Dieses Wissen lastete schwer auf ihm, aber er zwang sich, dieses Geheimnis nicht preiszugeben, denn er wusste nicht, ob er den Hütern der geheimen Geschichte vollkommen trauen konnte. Auch wusste er nicht, ob die unbegreifliche Anziehungskraft Ilbéthas nicht wieder eine Katastrophe auslösen würde, sollte sich das Gerücht herumsprechen, dass sie noch am Leben war.
Es war besser, wenn niemand davon erfahren würde, auch seine Freunde nicht.
Pais und er machten sich gerade daran, die unterirdische Pinakothek wieder zu verlassen, als Antilius eine hölzerne Bodenplatte auffiel, die nicht mehr als zwei Quadratmeter groß war und mit dem Steinboden eine ebene Fläche bildete.
»Was ist das? Gibt es darunter noch einen Raum?«
Avest schüttelte den Kopf. »Nein, aber vor vielen Jahren glaubte man, dass unter dieser Höhle noch eine Kammer wäre. Man meißelte sich ein paar Meter weit in die Tiefe und stieß tatsächlich auf eine Hohlkammer. Sie war jedoch mit Geröll zugeschüttet. Man konnte es unmöglich sprengen oder herausholen. Welche Funktion diese Kammer einmal gehabt hat, darüber können wir nur spekulieren.«
»Eines der vielen Geheimnisse, die wohl für immer ungeklärt bleiben«, bemerkte Pais mit einem Ansatz von Vorwurf in seiner Stimme. Denn er hatte sich letztlich wesentlich mehr erhofft, als ein Bild und ein Stück Kristall präsentiert zu bekommen.
Sie verließen schließlich den Raum. Antilius hielt am Treppenaufgang noch einmal kurz inne und drehte sich auf dem Absatz um. Irgendetwas an diesem Gemälde hatte er übersehen. Irgendein Detail. Etwas Wichtiges. Doch er konnte es nicht finden.
Er würde irgendwann noch einmal zurückkommen, um sich in Ruhe das Bild genauer anzusehen.
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