Mit einem unguten Gefühl wandte er sich ab und folgte den anderen nach draußen.
Wie versprochen erfuhren Haif und Gilbert von ihren Gefährten alles, was sie in der Pinakothek gesehen hatten. Als Antilius erklärte, dass er nach Arbrit reisen müsse, reagierte Haif überhaupt nicht erfreut.
»Ach wie schade! Gerade wenn es spannend wird, müssen wir uns trennen. Und was soll ich jetzt machen?«, sagte er und gab Antilius den Spiegel zurück.
»Kein Grund, den Kopf hängen zu lassen«, wollte Antilius den pelzigen Sortaner aufmuntern. »Du kannst dich entscheiden, ob du mit mir und Gilbert nach Arbrit reisen möchtest, oder ob du mit Pais auf die Suche nach dem Flüsternden Buch gehst.
Er kann doch mit mir kommen, oder Präfektin?«
»Einen Gefährten könnt Ihr mitnehmen.«
»Da hörst du es. Und? Mit wem möchtest du mitgehen?«
Haif hatte nicht damit gerechnet, vor die Wahl gestellt zu werden. Er machte ein nachdenkliches Gesicht und überlegte intensiv. »Also entweder in eine unbekannte Welt mit gigantischen Bäumen reisen oder nach einem verrückt gewordenen Buch suchen. Ich weiß nicht. Ach, ich hasse diese Konflikte!«
»Ihr müsst Euch nicht sofort entscheiden«, beruhigte ihn die Präfektin. Wir werden Antilius zum Abreisepunkt begleiten, solange könnt Ihr es Euch noch überlegen. Dort oben ist es. Seht Ihr?« Sie zeigte zur dritten Terrasse des inneren Vulkanhangs. Vom untersten Punkt des Vulkans aus, an dem sie sich befanden, konnte man dort oben nur eine große unbebaute Fläche erahnen.
»Von dort aus soll ich aufbrechen?«, fragte Antilius verdutzt. »Was ist dort? Womit werde ich reisen, Präfektin?«
»Das werdet Ihr mit eigenen Augen sehen müssen, sonst würdet Ihr es mir nicht glauben.«
Antilius hatte zwar eine Ahnung, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass die Bewohner der Ahnenländer in der Lage waren, Fluggeräte zu bauen. Doch was sonst sollte auf der freien Fläche sein?
Während sie den Aufstieg zur dritten Terrasse bewältigten und dabei zwangsläufig durch die Wohngebiete gingen und an kleineren Handwerksbetrieben und Gaststätten vorbeikamen, fiel den Besuchern vor allem Eines auf: Nämlich, dass die Stadt der Ahnen offensichtlich bevölkerungsarm war. Auf den Straßen und Gassen herrschte gähnende Leere. Auf einem Marktplatz, den sie passierten, waren nur verstreut einige Menschen zu sehen. Überhaupt schien die Stadt der Ahnen ausschließlich von Menschen bewohnt zu sein und das auch nur äußerst spärlich.
Auf Nachfrage hin erklärte die Präfektin, dass die totale Isolierung der Ahnenländer vom Rest der Welt dazu geführt habe, dass die Einwohnerzahl mit der Zeit immer weiter schrumpfte. Man habe viele Versuche unternommen, etwas dagegen zu unternehmen, bisher jedoch erfolglos.
»Vielleicht solltet Ihr anfangen, darüber nachzudenken, die Isolation aufzuheben«, schlug Haif vor. »Der Grund für die Abspaltung der Ahnenländer liegt ja weit in der Vergangenheit. Und wenn ich das richtig verstanden habe, dann gibt es jetzt hier außer der Pinakothek nichts mehr, was diesen Zustand weiterhin rechtfertigt.«
»Das wäre eine große Veränderung. Eines Tages wird es vielleicht sogar möglich sein. Früher, vor dem großen Krieg, da lebten alle Völker Thalantias mehr oder weniger zusammen und gleichberechtigt unter der Führung der fünf Königshäuser. Heute hat sich jedes Volk sein eigenes Refugium geschaffen, und man redet nicht mehr so viel miteinander, wie es damals selbstverständlich war. Und wenn man nicht miteinander redet, versteht man sich auch nicht mehr. Wir müssen uns immer vor Augen halten, dass unsere Vorfahren, und zwar die aller Völker, nach dem Krieg beschlossen, ihre ganze Kultur zu opfern, um ein neues Leben zu beginnen.
Heute besteht Thalantia nur aus verstreuten Provinzen und einigen Städten, jede mit ihren eigenen Regeln und Interessen.
Die Art, wie wir heute leben, ist eine direkte Konsequenz der folgenschweren Entscheidung unserer Vorfahren. Wir sind dadurch zwar bis heute von weiterem großen Unheil verschont geblieben, aber wir haben auch unsere Identität verloren.«
Die Präfektin machte für einen Moment Halt, weil sie von einem Gedanken erfasst wurde, den sie bis zum heutigen Tage nie gewagt hätte, laut auszusprechen. Doch jetzt tat sie es.
»Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sagen würde. Ganz besonders nicht in unserer jetzigen Situation. Aber als ich von Euren Erlebnissen erfahren habe, Antilius, da hatte ich erstmals das Gefühl, dass wir die Chance haben, die letzte große Bedrohung für unsere Welt vernichten zu können. Mit Eurer Hilfe. Dass wir mit der Vergangenheit endgültig abschließen und eines Tages wieder so vereint leben zu können wie unsere Vorfahren.«
Antilius räusperte sich verlegen. »Ich weiß das Vertrauen, das Ihr in mich setzt, zu schätzen. Aber von mir ganz allein wird wohl kaum die ganze Zukunft abhängen können. Das wäre eine ziemlich unheimliche Vorstellung.«
Die Präfektin winkte ab. »Ach, vergesst, was ich gesagt habe. Ich habe nur laut gedacht. Ich wollte Euch nicht in Verlegenheit bringen.«
»Schon gut«, sagte Antilius zuvorkommend, aber innerlich sackte er in sich zusammen. Denn, dass er nun zum einzigen Hoffnungsträger hochstilisiert wurde, war das Letzte, was er gebrauchen konnte. Wenn es danach ginge, was ihm am liebsten wäre, dann hätte er alle Verantwortung abgegeben und sich verkrochen. Aber das war keine Option mehr. Dafür war schon zu viel passiert.
Inzwischen hatten sie die dritte Terrasse erreicht und durchschritten einen großen Torbogen, hinter dem sich eine langgezogene freie Grasfläche erstreckte.
Nur ein einziges Gebäude stand darauf. Es sah aus wie ein Stall. Die Präfektin betrat jenes Gebäude, nachdem sie Haif, Pais und Antilius bedeutet hatte, draußen zu warten.
»Was soll denn da drin sein?«, fragte Gilbert aus seinem Spiegel.
Nach einer Weile des gespannten Wartens erschien die Präfektin wieder mit einer Leine in der Hand. Ihr folgte ein etwa drei Meter hohes Geschöpf, von dem Antilius bis zu diesem Moment Stein und Bein geschworen hätte, dass es ausgestorben war.
»Darf ich vorstellen? Das ist unser vielleicht bestgehütetes Geheimnis: 'Alte Schwinge' ist ihr Name. Sie ist eine Artverwandte der Pterosaurier.«
»Ein Flugsaurier?«, murmelte Haif entsetzt, während er das urzeitliche Tier furchtsam betrachtete.
»Ganz recht. Ihre Flügelspannweite beträgt zwölf Meter. Auf ihrem Rücken kann Antilius den Weg nach Arbrit in weniger als einem Tag zurücklegen.«
»Ich dachte, das letzte Exemplar starb, als ich noch ein Kind war«, sagte Pais grinsend. »Zum Glück habe ich mich geirrt.«
Alte Schwinge war ein kupferfarbenes, anmutiges Geschöpf, federlos und mit einem sehr langen Schnabel. Sie zeigte sich von den Besuchern wenig beeindruckt und ließ sich von der Präfektin in stoischer Ruhe ein Sattelgeschirr anlegen.
Antilius blieb im wahrsten Sinne des Wortes die Spucke weg. Nicht nur aufgrund der Tatsache, dass er einem urzeitlichen Flugsaurier gegenüberstand, sondern vor allem, weil er auf diesem eine Flugreise antreten sollte.
»Also ich muss zugeben, dass es nicht viele Momente gibt, in denen ich froh bin, hier im Spiegel zu sein. Aber bei dem Gedanken, auf dem Rücken eines Flugsauriers übers Meer zu fliegen, da weiß ich doch wieder meine vier Gefängniswände zu schätzen.«
»Vielen Dank, Gilbert. Du verstehst es, mir Mut zu machen.«
Während Antilius nur ganz natürliche Furcht vorm Fliegen hatte, packte Haif beim Anblick von Alte Schwinge das nackte Entsetzen.
»Tut mir Leid, Antilius. Aber ich bin nicht fürs Fliegen gemacht. Schon beim Gedanken daran kriege ich kalte Schweißausbrüche. Ich werde mit Pais das Flüsternde Buch suchen. Du schaffst das schon ohne mich.«
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