»Ist schon in Ordnung. Ich verstehe das. Aber sagt mir, Präfektin, wie äh, ich meine, wie steuere ich Alte Schwinge?«
»Ihr braucht überhaupt nichts tun. Alte Schwinge kennt den Weg in und auswendig. Sie hat Tirl schon öfters von Arbrit hierher und wieder zurückgeflogenen. Sie weiß, was sie tut. Sie wird Euch sicher ans Ziel bringen. Seid einfach nett zu ihr. Sie ist mit ihren einhundertfünfzig Jahren eine alte Dame. Behandelt sie also gut.«
Antilius nickte. »Also dann...«
»Viel Glück mein Freund. Und pass auf dich auf«, sagte Pais.
»Mir passiert schon nichts. Ich habe ja Gilbert dabei.«
»Deshalb sage ich ja, pass auf dich auf«, schmunzelte Pais.
»Sehr lustig. Ich lach mich tot«, kam es entrüstet aus dem Spiegel.
»Komm schnell wieder. Irgendwas sagt mir, dass unsere Suche nach dem Flüsternden Buch länger dauern wird. Dann werden wir deine Hilfe brauchen«, sagte Haif, schon in düstere Vorahnung versunken.
Antilius schwang sich auf das urzeitliche Wesen und hielt sich krampfhaft und unbeholfen am Geschirr fest.
Die Präfektin blickte Alte Schwinge an und malte mit dem Zeigefinger eine imaginäre Spirale in die Luft. Das war das Signal für den Pterosaurier zum Aufbruch. Die 'Alte Dame' spannte ihre unbefiederten Flügel auf und begann, heftig mit ihnen zu schlagen. Die Luftmassen, die dabei verdrängt wurden, hätten Haif beinahe umfallen lassen. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis das große Tier begann abzuheben.
»Ich kann gar nicht hinsehen«, wimmerte Haif und hielt sich halb die Augen zu.
Langsam aber stetig gewann der Flugsaurier an Höhe, bis er sich in der Luft gen Osten drehte und sich dann rasch entfernte.
Als Alte Schwinge mit Antilius an Bord schließlich hinter der Oberkante des Kraterhanges verschwunden war, atmete Haif erleichtert auf.
»Puh! Bin ich froh, dass ich da nicht mitfliegen muss. Das hätte ich nicht lange durchgehalten. So ein Stress wäre nicht gut für mein Fell. Ich habe zwar etwas ein schlechtes Gewissen, dass ich ihn nicht begleite, aber ich denke, nach dem Flüsternden Buch zu suchen, ist auch eine sehr verdienstvolle Aufgabe, wenn auch nicht eine so gefährliche.« Haif hatte schrecklichen Durst bekommen. Er holte seine Feldflasche aus seinem kleinen Rucksack und trank lange und gierig.
Pais wandte sich an die Präfektin. »Wo sollen wir nach dem Buch suchen, wenn es sich nicht mehr in dem Palast von Koros befindet, wovon wir ja leider ausgehen müssen?«
»Es gibt nur eine Person, die in Frage kommt. Denn sie ist die Einzige, von der ich weiß, dass sie das Flüsternde Buch lesen kann. Sie lebt in der Stadt der losen Seelen, im Südosten von Truchten.«
Haif, der noch immer aus seiner Flasche trank, riss die Augen weit auf und schaute die Präfektin misstrauisch an, denn er war davon ausgegangen, dass sich seine Aufgabe ungefährlich gestalten würde.
»Spannt uns nicht auf die Folter. Wer ist es?«, forderte Pais die Präfektin auf.
»Ihr Name ist Calessia, die Törichte. Sie ist aber wohl besser bekannt als die Gefährtin des Todes.«
Als Haif diese Worte hörte, verschluckte er sich, spuckte sein Wasser aus und hustete wie ein Wilder. Pais klopfte ihm auf den Rücken.
»Wie bitte?«, rief Haif, als er wieder zu Atem kam. »Ich habe mich wohl verhört! Hättet Ihr das nicht früher sagen können? Da wäre ich doch lieber mit Antilius auf diesem Saurier-Vieh davongeflogen, wenn ich das gewusst hätte.«
Die Präfektin machte eine entschuldigende Geste. »Wir wissen, dass Calessia vor einigen Jahren das Buch in ihren Besitz gebracht hat und es sogar lesen konnte. Doch das Flüsternde Buch war nicht an Calessia interessiert, weil sie, wie es schien, als Transzendente ungeeignet war. Aber sie hat stets damit geprahlt, das Buch gelesen zu haben. Wir haben damals geglaubt, sie würde lügen und nur prahlen wollen. Doch anscheinend hat sie das Buch wirklich in Händen gehabt. Sie könnte also mehr darüber wissen als wir. Auch wenn wir nicht sicher sein können, ob dies der Wahrheit entspricht, so glaube ich doch, dass sie Euch bei der Suche helfen kann.«
»Warum sollte sie das tun? Warum sollte sie uns helfen?«, lamentierte Pais, der von dieser Frau schon gehört hatte.
»Wenn sie etwas weiß, dann wird sie mit Sicherheit eine Gegenleistung dafür verlangen. Ihr werdet dann entscheiden müssen, was Ihr tun wollt.«
»Das wird nicht leicht. Hoffen wir, dass wir Glück haben, und dass das Buch noch im Palast von Koros irgendwo versteckt ist. Dann können wir uns den Besuch bei Calessia sparen.
Also gut, es hilft ja nichts. Auf geht es, Haif.«
Der Sortaner schaute irritiert um sich. »Und wie sollen wir jetzt von dieser Insel runterkommen? Schließlich heißt es doch, man kann sie weder betreten noch verlassen.«
Unsere Insel zu betreten, ist für einen Außenstehenden praktisch unmöglich, soweit stimmt das Gerücht. Wir aber können jederzeit die Ahnenländer verlassen und betreten, wann immer wir wollen. An der Ostküste haben wir einen Flaschenzug, mit dem Ihr entlang des Steilhangs herabgelassen werdet. Unten ist ein Ruderboot, mit dem Ihr schnell nach Truchten übersetzen könnt«, erklärte die Präfektin.
Pais und Haif verabschiedeten sich und machten sich auf zum Lift. Als sie die Stadt der Ahnen hinter sich gelassen hatten, blieb Haif plötzlich stehen, da ihm eine Sache nicht mehr aus dem Kopf ging.
»O, ich habe kein gutes Gefühl, wenn ich an diese Gefährtin des Todes denke. Muss ich dich jetzt fragen, warum man sie so nennt? Muss ich das, Pais?«
Pais Ismendahl wollte zu einer Antwort ansetzen, wurde aber von Haif abgewürgt.
»Oder nein, sag es mir nicht! Ich könnte nachts kein Auge mehr zu tun.«
Haif machte wieder eine Pause und überlegte. »Oder doch! Sag es mir doch! Wenn ich es nicht weiß, kann ich erst recht nicht mehr schlafen.«
»Ach, Haif. Mach dir nicht so viele Sorgen. Solche Bezeichnungen dienen meist nur der Abschreckung. Oft steckt nicht viel dahinter.«
»So, meinst du?«
»Ganz bestimmt. Ich glaube nicht an diese Gerüchte.«
»Was für Gerüchte? Bitte, sag mir, was für Gerüchte das sind!«
»Na ja, es heißt, dass Calessia unethische Experimente durchführen würde.«
»Experimente?« Haif merkte, wie sich seine Kehle zuschnürte.
»Angeblich ist sie davon besessen, herauszufinden, was mit uns nach dem Tod geschehen wird. Die einen sagen, sie habe panische Angst vor dem Tod. Andere wiederum behaupten, sie wolle den Tod irgendwie beherrschen, oder das, was nach dem Tod kommt. Was immer das auch sein mag. Deshalb lässt Calessia angeblich ihre Opfer durch ein Pflanzengift in einen Schwebezustand zwischen Leben und Tod fallen. Also eine Art Beinahe-Tod Erfahrung. Diejenigen, die das überleben, sollen ihr von ihren Erlebnissen berichten. Aber es soll vorgekommen sein, dass einige dabei die Verbindung zu ihrer Seele verloren haben, als sie ins Leben zurückkehrten und nur noch als geistlose Drohnen in Calessias kleinem Reich umherirrten. Deshalb nennt man ihre Gemeinschaft auch die Stadt der losen Seelen.« Noch während Pais diese Worte sprach, ahnte er, dass es ein Fehler war, Haif davon zu erzählen.
»Das ist...« Haif suchte nach den passenden Worten. »Das ist ja krank! Und wir sollen diese Frau um Hilfe bitten?«
»Das müssen wir wohl. Aber denke daran: Es sind nur Gerüchte. Nichts davon muss stimmen«, versuchte Pais den kleinen Sortaner aufzumuntern und machte Anstalten, endlich weiterzugehen. Aber Haif war wie zur Salzsäule erstarrt, bewegte sich keinen Millimeter und starrte ins Leere. »Sicher muss da nichts dran sein«, sagte er. »Aber wenn doch?«
»Das ist äußerst unwahrscheinlich. Können wir jetzt weitergehen?«
»Ja, aber wenn sie uns auch in eine Drohne verwandeln will?«
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