1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 Einmal fuhr meine Mutter mit uns Kindern, nach Weimar. Sie musste da etwas bei der NSV erledigen. Weimar fand ich langweilig, und dass in dieser berühmten Stadt Goethe und Schiller gewirkt hatten, wusste ich genau so wenig wie meine Mutter. Auch hätten die Namen dieser beiden Herren weder mir noch meiner Mutter etwas gesagt. Auch etwas anderes wusste meine Mutter nicht, nämlich, dass ganz in der Nähe von Weimar das berüchtigte KZ von Buchenwald war. Dass es allerdings so etwas wie KZ´s gab, wussten die meisten Menschen in Deutschland. Nur die wenigsten wussten aber, was da geschah. Man stellte sich da Arbeitslager vor, in denen Arbeitsunwillige zur Arbeit erzogen werden sollten. Andererseits sprach man aber auch davon, dass man aus einem KZ nicht lebend heraus kommen würde. War die vorgegebene Vermutung, es handelte sich um Arbeitslager, doch nur ein vorgetäuschtes Unwissen?
Obwohl es uns bei unserem Bauern recht gut ging, er hatte sich mittlerweile von dem Schock erholt, dass sein Sohn im Krieg gefallen war und wir durften auch wieder in die gute Stube, bekam auch meine Mutter Heimweh. Sie nannte diesen Gefühlszustand „Das arme Dier“. Unseren Vater, der zu der Zeit nicht mehr beim Militär war, sondern bei der Druckerei Granderath auf der Flora-Straße einen kriegswichtigen Posten (damals sagte man noch nicht „Job“ dazu) hatte, informierte meine Mutter mit einem Blitztelegramm darüber, dass wir in zwei Tagen zurück kommen würden. Blitztelegramme wurden für meine Mutter zum beliebtesten Kommunikationsmittel; es war aber auch das teuerste.
Ja, und dann standen wir, meine Mutter und wir drei Kinder mit viel Gepäck auf dem Düsseldorfer Hauptbahnhof. Unser Vater nahm uns in Empfang und da unsere Wohnung auf der Kronen-Straße bis dahin die Luftangriffe unbeschädigt überstanden hatte, gab es hinsichtlich unserer Unterbringung keine Probleme. Wir wohnten also wieder in Düsseldorf in unserer vertrauten Wohnung auf der Kronen-Straße Nr. 29. Bei Fliegeralarm suchten wir den Luftschutzkeller der Friedenskirche an der Flora-Straße auf und das wurde dann zur Routine. Einige Häuser weiter war übrigens die Druckerei Granderath. Hier hatte mein Vater seinen kriegswichtigen Posten. Er musste da irgendwelche Formulare für die Großdeutsche Wehrmacht herstellen. Sein Chef, der Herr Granderath, hatte einen riesengroßen Hund. Es war ein Bernhardiner mit dem Namen Barry. Mein Vater führte ihn öfters aus und ich durfte ihn hin und wieder dabei begleiten. Das war zwar wunderschön, aber Barry hatte eine richtige Sabberschnauze, die er auch schon mal gegen mein Gesicht drückte. Das nahm ich ihm aber nie besonders übel. Barry hatte auf dem Hof der Druckerei einen großen Zwinger mit einer Hütte, die wie das Hexenhaus aus dem Märchen von Hänsel und Gretel aussah. Dann gab es da noch einen Teich mit Goldfischen und mehrere Sträucher machten aus dem Zwinger ein kleines Hundeparadies. Ja, ja, der Herr Granderath hatte seinen Barry richtig lieb
Die schönen Spaziergänge mit Barry änderten aber nichts daran, dass wir uns im Kriege befanden und in den meisten Nächten in den Luftschutzkeller mussten, da feindliche Flieger im Anflug waren. So auch dieses Mal. Wie immer eilten wir zur Friedenskirche an der Flora-Straße und in deren Keller warteten wir auf die Detonationsgeräusche der feindlichen Bomben. Es blieb aber ruhig und der Luftschutzwart meinte, dass bald die Entwarnung käme, weil das Geschwader abgedreht hätte. Die Engländer würden wohl Köln bombardieren. „Gott sei Dank Köln“ dachte wohl der eine oder andere und die Meisten erhoben sich schon von ihren Stühlen, als eine mittlere Detonation den Luftschutzkeller erzittern ließ. Danach war erst mal eine Totenstille und dann kam doch noch der langgezogene Heulton der Entwarnung.
Was war geschehen? Nachdem wir den Luftschutzkeller verlassen hatten, erfuhren wir es: Ein einzelner englischer Flieger, der sich wohl verirrt hatte und den Anschluss zu seinem Geschwader nicht mehr fand, hatte seine Bombenfracht über Düsseldorf ausgeklinkt. Eine der Bomben, es war eine kleinere, fiel in den Hof der Druckerei Granderath, ganz nahe bei Barry`s Zwinger. Das Fatale aber war, dass Barry in dieser Nacht, während dieses Bombenabwurfs in seinem Zwinger war. Herr Granderath kannte nämlich jemanden von der Luftabwehr und der hatte ihn schon früh darüber informiert, dass diesmal nicht Düsseldorf, sondern Köln „dran“ sei. Also glaubte Herr Granderath, seinen Barry unbesorgt im Zwinger lassen zu können, anstatt ihn mit zu sich in seinen persönlichen Luftschutzkeller zu nehmen. Dass da so ein englischer Flieger sich verirren könnte und seine Bomben über Düsseldorf abwerfen würde, damit hatte Herr Granderath nicht gerechnet. Mein Vater meinte, dass Barry ohne Schmerzen sofort tot gewesen sei und dass das gut für ihn war. Ich lernte sehr früh, dass der Tod als solcher nicht unbedingt das Schlimmste ist. Es gab schlimmeres, und das waren die körperlichen und seelischen Schmerzen, die der Krieg den Menschen zufügte.
Vor dem evangelischen Krankenhaus auf dem Fürstenwall standen zwei Omnibusse, die uns Kindern deshalb auffielen, weil auch die Fenster schneeweiß gestrichen waren. Die Busse waren durch große, rote Kreuze als Krankenwagen gekennzeichnet. Wir gingen da hin, um zu sehen, was los war. Zu sehen war zunächst nichts. Der erste Bus hatte beide Türen geschlossen. Aber die Fenster standen auf „Kipp“. Dann hörten wir Töne, die wir zunächst nicht als menschliche Laute erkannten. Uns wurde dann aber schnell klar, dass hier Menschen große Schmerzen hatten und dass ihnen die Kraft fehlte, um laute Schmerzensschreie ausstoßen zu können. Es war ein quengelndes Stöhnen, Wimmern, Japsen, Bibbern und Winseln, was wir da hörten.
„ Ihr geht jetzt mal schön nach Hause, Ihr habt hier nichts verloren!“ Der das sagte, war einer der Bus-Fahrer, er trug eine Sanitäter- Uniform. Wir gingen zum nächsten Bus und da war eine Tür geöffnet. Zu sehen waren wie Etagenbetten übereinander angeordnete Tragbahren. Die Menschen, die darauf lagen, konnten als Menschen nur vermutet werden, denn sie waren wie Mumien mit Verbandmaterial verpackt. Es waren aber keine Mumien, denn sie stießen die gleichen Laute aus, wie die Menschen im vorderen Bus. Auch hier wurden wir fort geschickt. Natürlich gab es auch erwachsene Neugierige und aus deren Gesprächen hörten wir Kinder heraus, dass es sich bei den Unglücklichen in den beiden Bussen um Bombenopfer handelte, die allerschlimmste Verbrennungen durch Phosphor erlitten hatten und dass das evangelische Krankenhaus sie nicht aufnehmen konnte, da es bereits überfüllt war.
Außer den Luftschutzkellern und Bunkern, die Schutz gegen Bomben bieten konnten, gab es noch so genannte Splitterschutzgräben. Das waren etwa 1,5 Meter breite und 2,5 Meter tiefe Gräben, deren Wände mit Holzpalisaden abgestützt wurden. Die Decken bestanden ebenfalls aus Holzstämmen, die mit einer etwa 1,0 Meter hohen Erdschicht abgedeckt wurden. Die Böden bestanden aus fest gestampftem Lehm.
Da drinnen konnte man also Schutz vor Bombensplittern und Stabbrandbomben finden. Im Ernstfall hätten die Schutzsuchenden sich aber sehr geekelt. Warum? Wegen der Exkremente! Irgendwelche Leute benutzten diese Schutzgräben als Toiletten. Bei uns in der Nähe, auf dem Fürstenwall / Ecke Kronprinzen-Straße, war so ein Splitterschutzgraben und wir Kinder gingen da mal rein. Es stank schlimmer als in der Schultoilette.
Ich glaube, es war auf dem Nachhauseweg von der Schule, als Rike mich aufforderte, mit ihr doch in den Splittergraben zu gehen. Weil ich den Gestank da drinnen kannte, hatte ich zwar zunächst keine Lust, ging dann aber doch mit. Drinnen hob Rike ihren Rock hoch, um mir zu zeigen, was sie da hatte. Da sie keine Hose trug, sah ich sofort, dass bei ihr etwas anders war als bei mir. Rike hatte mir gegenüber offensichtlich einen Wissensvorsprung, allerdings schien sie sich im Konkreten nicht ganz sicher zu sein, deshalb wohl forderte sie mich auf, mich meinerseits frei zu machen. Dieser Situation war ich nicht gewachsen, und ich rannte so schnell ich konnte nach Hause, um meiner Mutter einen lückenlosen Bericht abzustatten. Was zuerst kam, war der Hühnerblick. Dann zog sie sich den Mantel an und eilte zu Rikes Mutter. Dabei durfte ich sie nicht begleiten und danach hat Rike, die übrigens richtigerweise Friederike hieß, meine Nähe nicht mehr aufgesucht.
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