Morgens kamen wir in Weimar an, wo wir umsteigen mussten, denn unser Ziel war Olbersleben, ein Dorf in der Nähe von Weimar. Meine Enttäuschung war riesengroß, denn entgegen den Versprechungen meines Vaters gab es in Olbersleben weder Berge noch Wald. Wir wurden bei einem Großbauern untergebracht. Der hatte 24 Kühe, zwei Ochsen, 8 dicke, fette Schweine und jede Menge Hühner, Enten, Gänse und Puten sowie Angst einflößende Truthähne mit ihren rotfleischigen Bärten. Die Zahlenangaben weiß ich von meiner Mutter, die sich aber auch nicht hundertprozentig sicher war, ob sie denn alle stimmten. Unser Bauer war aber wohl der größte in Olbersleben und die anderen Evakuierten hatten nicht so viel Glück wie wir, denn deren Bauern hatten bedeutend weniger Kühe. Für uns Kinder, die aus dem Rheinland hierher verschickt wurden, war es nämlich eine Prestigefrage, wie viele Kühe der jeweilige Bauer hatte. Ich war da also recht gut gestellt und trug ein entsprechendes Selbstbewusstsein zur Schau. In der Schule, ich besuchte mittlerweile die zweite Klasse, wurden wir Kinder aus dem Rheinland von der Lehrerin freundlich begrüßt und sie erklärte den einheimischen Schülern, dass wir ein schöneres Deutsch sprächen als diese. Das nahmen sie neidlos zur Kenntnis und es wurde uns von ihnen auch nicht übel genommen. Vielleicht bewunderten sie uns ja auch wegen unserer schöneren Aussprache.
Es gab aber eine Gruppe von Dorfbewohnern, die sehr wohl etwas gegen uns Rheinländer hatten und besonders auf mich hatten sie es abgesehen. Aus dem Weg gehen ging nicht, denn der Schulweg führte an denen vorbei. Das waren die Gänse der Bauern, die in der Mitte des Dorfes einen gemeinsamen Teich hatten und die Gänse waren sich darin einig, dass ich unerwünscht war. Ich hatte wohl so etwas an mir. Sie griffen an und ich musste laufen, so schnell ich konnte. Wer so etwas schon mal erlebt hat, wird zugeben, dass Gänseriche sehr bedrohlich sein können. Immer, wenn ich in der Folgezeit davon hörte, dass irgendein Bauer eine Gans schlachtete, fragte ich, ob diese Gans eventuell ein Gänserich war und falls ja, gab es bei mir kein Mitleid.
In Olbersleben wurde sehr viel gebacken. Das Gemeindebackhaus war in der Nähe der Schule und die Bäuerinnen und Mägde des Dorfes brachten auf großen, runden Backblechen, die sie auf dem Kopf trugen und mit einer Hand festhielten, den Kuchenteig zum Backen dahin. Meistens wurde Streuselkuchen gebacken. Aber auch Brote wurden von den Bäuerinnen selbst gebacken und die Brotformen waren große, flache Körbe. Entsprechend groß waren die herrlich duftenden Brotlaibe, die, wenn sie fertig gebacken waren, aus dem Ofen gezogen wurden. Ich dachte dann immer an Frau Holle und an die Gold-Marie, wenn die die fertigen Brotlaibe aus dem Ofen zog.
Wie alle Bauern im Großdeutschen Reich, war auch unser Bauer ein sogenannter Selbstversorger und dazu gehörte, dass er selbst schlachten durfte. Eines Tages wurde eine seiner dicken, fetten Sauen geschlachtet. Das machte der Bauer aber nicht selbst, sondern ein Schlachter, der für das ganze Dorf zuständig war. Die Schlachtung geschah vormittags, als ich in der Schule war. Als ich zurückkam, war die bereits geschlachtete Sau auf ein Gerüst gespannt und der Schlachter war dabei, die Innereien aus der Sau heraus zu holen. Für mich war das zwar kein schöner Anblick, aber ich machte eine Beobachtung, die mich faszinierte. Der Schlachter trug eine Gummischürze, die vom Hals bis zum Boden reichte und in Brusthöhe war eine Art Klappe, die er aufschlagen konnte. Als er die Klappe aufschlug, sah ich mehrere Fächer mit kleinen Gewürzbehältern. Mit seinem Messer schnitt er ein kleines Stück von den noch lebendwarmen Innereien heraus, bestreute es mit zwei oder drei Gewürzen und führte es zum Mund. Es schien ihm gut zu schmecken, denn er kaute mit Behagen. Als er merkte, dass ich ihn beobachtete, schnitt er ein anderes Stück aus dem Schweinekörper, bestreute es ebenfalls mit Gewürzen und bot es mir an. Erschrocken lief ich zu meiner Mutter und berichtete ihr von dem Angebot, das der Schlachter mir da gemacht hatte. „Ja, ja“, kommentierte sie, „die Metzger machen das immer so!“
Der Bauer hatte auch eine besondere Wurstküche, da wurden das aufgefangene Blut, die meisten Innereien und andere Teile der Sau zu Wurst verarbeitet. Dabei durfte auch meine Mutter helfen und abends gab es eine Wurstsuppe, die mir nach anfänglichen Vorbehalten gut schmeckte. Sie schmeckte sogar sehr gut.
Sehr deutlich erinnere ich mich auch an eine große Festveranstaltung, an der auch die Evakuierten, wir Rheinländer also, teilnehmen durften. Der Festsaal war mit Blumen und vielen, vielen Fahnen mit dem schwarzen Hakenkreuz im weißen Kreis auf rotem Grund herrlich geschmückt. Es gab Unmengen an Streuselkuchen, den die Bäuerinnen selbst gebacken hatten. Wir Kinder bekamen sogar Kakao, von dem wir so viel trinken konnten, wie wir wollten. Eine Musikkapelle spielte zackige Marschmusik, die mir sehr gut gefiel. Alle waren sehr lustig und viele der jungen Männer und Frauen tanzten. Dass auch viel geküsst wurde, fiel mir zwar auf, aber ich dachte mir natürlich nichts dabei. Auch merkte ich mit meinen sieben Jahren nicht, dass die große Lustigkeit nur eine scheinbare war. Später erfuhr ich von meiner Mutter, was da wirklich los war, dass sich hinter der lauten Heiterkeit auch viel Traurigkeit verbarg. Es war nämlich die Abschiedsfeier für die jungen Männer des Dorfes, die zum Militär eingezogen wurden. Dazu gehörte auch der Sohn unseres Bauern. Über der Musikkapelle hing ein riesiges Bild mit dem Porträt eines Mannes, der mit strengem Blick auf die Feiernden herab sah. Ich kannte und bewunderte diesen Mann. Es war der Führer des Großdeutschen Reiches Adolf Hitler, der so gut zu uns war und so viel für uns getan hatte.
Nach dieser großen Feier ging alles wieder seinen gewohnten Gang. Der Bauer, der immer sehr freundlich war, obwohl wir ihm ja von der NSDAP als nicht unbedingt willkommene Gäste aufgezwungen wurden, änderte irgendwann sein Verhalten uns gegenüber. Er beachtete uns nicht mehr. Schuld daran war dieser Brief, mit dem ihm mitgeteilt wurde, dass sein Sohn für Führer, Volk und Vaterland gefallen war. Wir durften deshalb nicht mehr in die gute Stube.
Übrigens NSDAP: Das war die Abkürzung für „National Sozialistische Deutsche Arbeiter Partei“. Das hatte ich in der Schule gelernt. Wir Schüler mussten dem Lehrer dieses Wort so lange nachsprechen, bis es auch der letzte ohne zu stottern nachsagen konnte. Ja, damals waren die Schulen viel besser als heute, was auch durch die großen Lehrerfolge bewiesen werden kann.
Was die Gänse betrifft, so hatte ich doch bald einen Weg gefunden, der einen großen Bogen um den Enten- und Gänseteich machte. Dieser Weg war aber etwas weiter und führte am Friedhof vorbei. Wer oft an einem Friedhof vorbei geht, wird irgendwann Zeuge einer Beerdigung. Die Beerdigung, der ich als Zaungast beiwohnte, beeindruckte mich wegen der vielen Fahnen. Wie ein Meer wogten die Hakenkreuzfahnen im leichten Wind. Die Männer, die die Fahnenstangen hielten, trugen ausnahmslos braune Uniformen. Jemand hielt eine Rede, deren Worte ich nicht verstand. Sehr gut verstand ich aber dieses kurze, knappe „Sieg“ , welches ein Mann laut bellend heraus schrie, sodass es sich wie „Sick“ anhörte. Dieses „Sick“ wurde von den anderen Trauergästen wie im Chor mit einem lang gezogenen „Heiiil “ beantwortet. Dieses „Sick Heiiil “ erscholl dreimal. Dann spielte eine Blaskapelle die ergreifende Melodie des Liedes „Ich hatte einen Kameraden.“ Das Lied kannte ich, mein Vater hatte es öfters zusammen mit anderen Männern in einer Wirtschaft gesungen. Da hatten sie aber schon einige Gläser Bier getrunken.
Ja, Heimweh bekam ich auch. Seltsamerweise hatte ich keine Freunde, und meine Brüder waren mir als Spielkameraden zu klein. Hinter dem Dorf gab es eine kleine Anhöhe und an späten Nachmittagen ging ich oft dahin. In weiter Ferne konnte ich die Konturen eines Gebirges erkennen. Die Berge sahen bläulich, gläsern aus. Ob dahinter wohl meine Heimatstadt Düsseldorf lag? Vor Heimweh weinte ich. Bis heute weiß mich nicht, ob es der Thüringer Wald oder ein anderer Gebirgszug war, den ich da sehen konnte. Ich muss da unbedingt einmal hinfahren.
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