1 ...7 8 9 11 12 13 ...19 Es kam der Herbst 1942, es kam das Weihnachtsfest und es kam der Winter 1942/43. Der Winter war sehr kalt und brachte auch viel Schnee. Obwohl das Weihnachtsfest doch ein Fest der Freude sein sollte, waren die Menschen sehr ernst, ja, es machte sich sogar eine gedrückte Stimmung bemerkbar, die auch uns Kindern nicht verborgen blieb. Das lag aber nicht daran, dass es kaum noch etwas zu kaufen gab, um das Weihnachtsfest schön ausrichten zu können. Nein, der Grund war die Katastrophe von Stalingrad. Stalingrad, dieses Wort fiel öfters, wenn die Erwachsenen sich unterhielten. Es hatte etwas Geheimnisvolles und wenn darüber gesprochen wurde, dann mit einer besonderen Vorsicht. Es wurde darauf geachtet, dass wir Kinder nicht allzu viel mitbekamen. Was das für eine Katastrophe war, erfuhr ich erst nach dem Kriege, und auch, dass die Väter mehrerer meiner Mitschüler in Stalingrad gefallen waren.
Das war wohl auch der Grund dafür, dass die russischen Zwangsarbeiter immer schlechter behandelt wurden. Die meisten von ihnen hatten nur Sommerkleidung und litten unter der Kälte besonders schlimm. Als wenn das nicht genug gewesen wäre, wurden sie auch noch mit der Lederpeitsche geschlagen. Der Aufpasser fand immer einen Grund, um auf die Russen einzuschlagen. Das geschah auch vor den Augen von uns Kindern.
Was war der Aufpasser für ein Mensch, der so etwas machte? Der Mensch war ein alter Mann, der einen grünen Lodenmantel, so eine Art Jägermantel, trug. Der ebenfalls grüne Hut war mit einer pinselähnlichen Bürste verziert und dass er wie ein richtiger Jäger aussah, dafür sorgten die Schaftstiefel, die er trug. Sein Gesicht war stets gerötet. Wahrscheinlich hatte er permanent große Hassgefühle und die ließ er an den Russen aus. Einmal schlug er besonders brutal zu. Das war, als er zwei Russen dabei erwischte, wie sie aus einer Mülltonne Kartoffelschalen heraus nahmen. Danach hatte er die Frau, die ihre Abfälle in die Tonne geworfen hatte, aufs Heftigste beschimpft. Angeblich hatte sie Lebensmittel verschwendet und er drohte ihr mit einer Anzeige. Sie würde dort hinkommen, wo sie selbst nichts mehr zu fressen bekäme. Von meinen Eltern erfuhr ich später, dass die Frau tatsächlich gegen eine Verordnung verstoßen hatte, die darin bestand, dass Kartoffeln wegen der knappen Ernte nicht mehr geschält werden sollten. Die staatlich verkündete Parole lautete daher: „NUR PELLKARTOFFELN“. Aus diesem Grund bekam die Frau auch tatsächlich eine Verwarnung.
Die Russen wurden übrigens zum Beseitigen des Schuttes der durch die Bomben zerstörten Häuser eingesetzt. Sie mussten aber auch die einsturzgefährdeten Mauern und Hauswände der ausgebrannten Häuser beseitigen. Wie gefährlich das war, wurde auch uns Kindern klar, wenn wir sahen, dass so ein armer Russe hoch oben über dem fünften Stock ungesichert auf der Mauerkrone stand und mit einem schweren Vorschlaghammer die Ziegelsteine und ganze Mauerstücke unter seinen Füßen abschlug, die dann nach unten fielen. Er schlug damit buchstäblich den Boden unter seinen Füßen weg. Dass dabei nicht wenige Russen tödlich verunglückten, weiß ich von meinem Vater. Der erklärte mir später, dass im Grunde genommen jeder Unfall eines Russen ein tödlicher war, weil jede Verletzung, die einen Russen arbeitsunfähig machte, dessen Tod bedeutete. Die ärmsten wurden nämlich nur notdürftig medizinisch versorgt und die Lebensmittel wurden so drastisch gekürzt, dass sie verhungern mussten.
Am 8. April 1943 hatte ich Geburtstag. Ich wurde acht Jahre alt. Mein Geburtstagsgeschenk war kriegspädagogisch wertvoll. Es war ein zweiteiliges Geschenk, bestehend aus einem großen Schlachtschiff und einem kleinen Torpedoboot. Schokolade gab es nicht. Aber die von meiner Mutter gebackenen Plätzchen waren auch sehr lecker. Das etwa 40 cm lange Schlachtschiff war ein englisches und demzufolge ein feindliches. Ein solches Schlachtschiff durfte ein deutscher Junge also nur besitzen, um es zu vernichten. Der Vorteil dieses Kriegsschiffes lag nun darin, dass man es sehr oft vernichten konnte. Es bestand aus etwa 20 hölzernen Einzelteilen, die lose zusammen zu setzen waren. Das schöne aber war, dass es von dem deutschen Torpedoboot zerstört werden konnte. Wie das ging?
Das Schlachtschiff hatte in seinem Rumpf eine Vorrichtung, die aus einer Stahlfeder und einem Wippbrettchen bestand, ähnlich wie bei einer Mausefalle. Bevor man die Einzelteile des Schlachtschiffes zusammensetzte, musste zuvor die Feder gespannt werden, also ganz genau so, wie bei einer Mausefalle. Nun aber kam das Raffinierte: Der Schiffsrumpf hatte an einer Seite ein rundes Loch in Linie mit einem kleinen Hebelchen, mit dem die Stahlfeder ausgelöst werden konnte. Damit das aber zu bewerkstelligen war, musste ein Holzbolzen mit etwa 1,5 cm Durchmesser vorsichtig in das seitliche Loch des Schlachtschiffes hinein geschoben werden, aber wirklich vorsichtig, damit man die Feder im Schiffsrumpf nicht vorzeitig auslöste.
Und jetzt war das Torpedoboot dran. Auch hier war eine Stahlfeder das wichtigste Teil, allerdings keine Mausefallenfeder, sondern eine so genannte Schraubenfeder, die in dem Bug des Torpedobootes untergebracht war. Bugseitig hatte das Torpedoboot eine entsprechende Bohrung, in welche man das Torpedo einschieben musste und dabei die Schraubenfeder vorspannte. Das Torpedo war ein rot lackierter, etwa 6 cm langer Holzbolzen mit etwa 1,5 cm Durchmesser. Auch hier war es wieder ein Holzhebelchen, mit dem die Schraubenfeder ausgelöst und dadurch das Torpedo heraus katapultiert wurde. Das spannende Spiel bestand nun darin, das Torpedoboot so in Position zu bringen, dass der in dem Schlachtschiff eingesetzte Bolzen getroffen wurde. Wenn das gelang, wurde das Schlachtschiff durch die Mausefallenfeder in alle 20 Einzelteile auseinander gerissen. Dabei flogen die Teile etwa einen Meter hoch und verteilten sich im ganzen Wohnzimmer. Den richtigen Treffer zu machen, war aber gar nicht so leicht, und anfangs betrog ich mich selbst, indem ich mit dem Finger auf den Holzbolzen des Schlachtschiffes drückte. Im Laufe der Zeit erreichte ich aber ein hohes Maß an Treffsicherheit, so dass mein Torpedoboot das feindliche Schlachtschiff aus einer Entfernung von 1,5 Metern mit größter Sicherheit treffen und vernichten konnte. Ich kann mich nicht erinnern, in der Folgezeit jemals ein schöneres Spielzeug besessen zu haben. Dabei war beides gleichermaßen schön: Das Schlachtschiff zu zerstören und es wieder aufzubauen.
Es wurde bald sommerlich warm und meine Freunde und ich erfrischten uns gerne mit Brausepulver. Normalerweise machte man damit Limonade, indem man das Brausepulver zuerst in ein Glas gab und danach das Glas mit Wasser füllte. Das Wasser schäumte dann auf, bekam eine gelbe Färbung wie Zitronenlimonade und schmeckte auch so. Das war uns aber zu umständlich. Wir schütteten das Pulver auf den Handteller und leckten es auf. Das Prickeln auf der Zunge war dann ein echter Hochgenuss. Das Brausepulver konnte man üblicherweise im Feinkostgeschäft Oeser kaufen. Eines Tages hatte Herr Oeser kein Brausepulver mehr und erklärte uns, dass es für die Soldaten gebraucht würde. Wir sollten es doch mal in der Drogerie dahinten versuchen, da wäre bestimmt noch etwas zu haben. Also ging ich mit meinem Freund Karl-Heinz zur Drogerie an der Ecke Flora-Straße.
Mit großer Freude sahen wir den Karton mit den vielen kleinen Brausetütchen auf der Theke. Vor uns wurde gerade noch älterer Herr bedient. Als der alles hatte und schon gehen wollte, drehte er sich noch mal um und sagte: „Ach, können Sie mir noch zehn Brausetütchen geben, die möchte ich meinem Sohn schicken, wissen Sie, der ist nämlich im Afrikacorps!“ „Oh“, sagte der Drogist, „in Afrika, da ist mein Neffe auch. Der lässt sich auch immer etwas von dem Brausepulver zuschicken. Mein Bruder hat ihm vorige Woche einen ganzen Karton zugeschickt. Wissen Sie was, ich gebe Ihnen hier den Karton mit, da sind noch mehr als fünfzig Stück drin. Die brauchen Sie mir nicht zu bezahlen. Grüßen Sie Ihren Sohn recht herzlich von mir. Tja, leider gibt es kein Brausepulver mehr, wegen der Kriegsbewirtschaftung, Sie wissen ja!“ Karl-Heinz und ich konnten unsere Enttäuschung kaum verbergen und leise schimpfend verließen wir die Drogerie.
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