Amelie trat aus der Dusche heraus und empfand die Kälte des Bads als erfrischenden Atemzug, der ihr einen Schwung mitgab, um sie diesen Tag überstehen zu lassen. Ihr Blick verharrte erneut an der Tür, bei ihrem Fußabdruck an den Fliesen, wo wieder ein Stück Papier hervorschaute, dieses Mal allerdings mit der Handschrift des Clowns:
Die Tür war abgeschlossen, außen hängt Kleidung.
Die Alte gehört verbrannt.
Zuerst lauschte sie in die Stille hinein, vernahm den Clown, wie er im unteren Stockwerk herum rumorte und wog sich in Sicherheit die Tür öffnen zu können. Bei dem Kleidungsstück handelte es sich definitiv um ein Kostüm. Da Amelie immerhin nur in ihren eigenen vier Wänden so herumlaufen müsste und nicht vor der Öffentlichkeit, und vor allem nur so lange, bis sie ihre eigene Wäsche gewaschen und getrocknet (oder verbrannt) hatte, solange könnte sie dieses Ding tragen. Andererseits war es ihr in dem Moment auch ziemlich gleich, was sie trug, solange ihre saubere Haut nicht die alte Kleidung tragen musste. Gleichzeitig war auch dieser Teil ihr egal. Es war, als würde sie nur zwischen den ihr gebotenen Optionen wählen, ohne selbst dabei wirklich eine Entscheidung zu fällen.
Das Kostüm stellte sich als Zahnpastatube heraus, welches Amelie nicht weiter in Frage stellte. Es war als Kleid konstruiert, das ihr bis zu den Knöcheln reichte, mit blauen Streifen und einem weniger kreativen Werbeslogan:
Blendende Gesundheit mit blendenden Zähnen !
Den albernen Hut als Öffnung ließ sie im Bad und stakste so hinunter, auf der Suche nach den Missetaten des Clowns. Wie lange sie wohl unter der Dusche gestanden hatte? Was er in der Zeit angerichtet hatte?
»Wissen Sie, Ihr Geschmack lässt zu wünschen übrig. Es wäre nett, wenn ich ein kleines Mitspracherecht hätte.« Mit den Worten kündigte sich Amelie an, während sie die Treppen hinunterging und nach des Clowns Schandtaten Ausschau hielt.
»Weißt du, ich finde, dass du eine äußerst schlechte Gastgeberin bist. Obendrein bin ich dafür, dass wir diesen Höflichkeits-Quatsch lassen. Immerhin habe ich dich bereits nackt gesehen. Ich glaube näher müssen wir uns auch nicht kommen und daher wäre es wohl angebracht ein kleines nettes Du zu verwenden, meinst du nicht auch? Schick siehst du übrigens aus.«
»Von mir aus, ich heiße Amelie. Jetzt verrate mir bitte, was all das hier soll«, seufzte sie und deutete mit einer ausladenden Bewegung auf die Farbeskalation, die sich während ihrer Duschzeit in ihrem Haus manifestiert hatte. Der Clown hatte alles gegeben, das musste sie ihm lassen. Nur eine tatsächliche Farbbombe hätte dieses Chaos noch übertrumpfen können; Farbe tropfte mittlerweile in etlichen Varianten von der Decke jedes Zimmers hinunter und sorgte dafür, dass überall des Clowns Fußabdrücke bunt verteilt lagen und ungefähr seinen Farbweg andeuteten. Es waren so viele Fußabdrücke, dass Amelie den Eindruck bekam, eine ganze Horde seiner Art hätte sich hier ausgetobt. Die Wände wurden ganz willkürlich mal vollständig, mal nur mit Klecksen, meistens allerdings mit einer gewaltigen Ladung Farbe versehen. Irgendwann musste der Clown entdeckt haben, dass er die Farbe auch kombinieren konnte, denn an den frischeren Stellen hatte er die Reste wohl miteinander gleichzeitig an die Wand geworfen. Der Geruch übernahm die Oberhand und hinterließ einen Geschmack auf ihrer Zunge, als wäre dieses Haus gerade renoviert und nicht seit Wochen nicht geputzt worden. Immerhin etwas. So würde es von Außen nicht mehr den Eindruck vermitteln, dass jemand im Inneren vegetierte.
»Ich bringe etwas Farbe in dein Leben!«
»Urkomisch, wirklich.«
»Wie dem auch sei, du lenkst vom eigentlichen Thema ab.«
»Ach, so? Und das wäre?«
»Deine Gast un freundlichkeit«, wiederholte er und öffnete demonstrativ den leeren Kühlschrank. Irritiert zog sie eine Augenbraue hoch, wie sie es sonst tat, wenn in ihrem Unternehmen eine Kollegin oder Praktikantin eine äußerst dumme Frage stellte.
»So leer war der aber vor ein paar Minuten noch nicht.«
»Du meinst wohl die abgelaufenen und vor sich hin schimmelnden Lebensmittel? Ja, die habe ich alle entsorgt. Puh, das war vielleicht ein Gestank. Na, dann wollen wir mal aufbrechen!«
»Moment, was?«, fragte sie, als er sich bereits auf dem Weg zur Haustür befand.
»Wir fahren, los, komm!«
»Und wohin, bitte?«
»Na, einkaufen, um deine Gastunfreundlichkeit auszugleichen. Dort gehören Lebensmittel in den Kühlschrank, wie soll denn hier ein Mensch leben können?« Na, gar nicht , dachte Amelie, verkniff sich allerdings den Kommentar und sog stattdessen einmal tief Luft ein, um ihrer Geduld den nötigen langen Atemzug zu gönnen.
»Ich brauche keine Lebensmittel.«
»Ja, das habe ich deinen etlichen Pizzakartons angesehen.«
»Dann wäre das geklärt.«
»Nein, das denke ich nicht. Du brauchst außerdem noch unterschiedliche andere Dinge.«
»Und das wäre?«
»Das wirst du dann schon sehen.«
»Pass auf, das hier ist ja alles wirklich sehr nett gemeint, aber genug ist genug. Ich werde das Haus nicht verlassen und schon einmal gar nicht darin.« Mit einer ausschwenkenden Bewegung deutete sie auf ihr Zahnpasta-Kostüm.
»So sehr wirst du schon nicht auffallen, immerhin würdest du mit einem Clown vor die Tür gehen.« Amelie seufzte lautstark.
»Ich will trotzdem nicht.«
»Ich warte dann im Auto.«
»Was? Nein!« Doch der Clown winkte ihr nur hinterher, während er durch die Vordertür verschwand und auf ihre Worte nur noch, »Lass mich nicht zu lange warten, das würde nur unnötig die Umwelt belasten«, erwiderte.
Amelie dachte im ersten Moment darüber nach, einfach die Haustür zu versperren, wenn es sein müsste mit den Regalen und der Couch aus dem Wohnzimmer. Darüber hinaus vielleicht noch alle weiteren möglichen Einbruchsmöglichkeiten zu beseitigen, um endlich wieder zu ihrer Ruhe zu finden. Zu ihrer Stille, der Fülle aus Nichts.
Drei Monate. Seit drei Monaten verkroch sie sich in ihre kleine Höhle, taumelte durch die Albtraumwelt von Maths Tod und verschloss sich gänzlich vor der Außenwelt. Ihr einziger Versuch die Welt dort draußen zu grüßen, hatte im Amtsgericht stattgefunden. Nachdem sie wieder durch die Haustür ihr Wohnzimmer betreten hatte und all die Ereignisse erbarmungslos auf sie niederprasselten, sie zurückbeförderten an genau jenen Tag, dieser Fall war derart schmerzhaft gewesen, dass sie es nicht noch einmal gewagt hatte hinauszugehen. Amelie wunderte sich gar, wenn sie jetzt so die Welt dort draußen durch die Haustür betrachtete, wie sie es damals eigentlich alleine vollbracht hatte das Haus zu verlassen.
Gewiss, es hatte diesen Brief gegeben, geklebt an das Küchenfenster, wie ein Mahnmal. Vermutlich wird es die Erinnerung gewesen sein, der Gedanke, dass diese Geschichte noch ein Teil von Math in ihrem Leben zurückließe, bis auch dieser abgeschlossen und beiseitegelegt war.
Beendet.
Als wäre Math nur ein Kapitel ihres Lebens, unterteilt in Unterkapitel, die ihre gemeinsamen Erlebnisse horteten. Und dieser Gerichtsprozess, ihre Anklage, dieser Teil gehörte noch zu ihm, zu ihrem gemeinsamen Leben. Ja, vermutlich wird es das gewesen sein, weshalb sie es gewagt hatte, tatsächlich vor die Tür getreten war, alleine, hinaus in die Welt.
Allerdings hatte sie das Zurückkehren gelehrt, dass sie diesen Schmerz nicht noch einmal ertragen wollte, es nicht konnte. Nicht noch einmal durch diese Tür treten und nichts vorfinden. Diese Leere. Diese unendliche Schweigsamkeit.
Dann zogen sie ihre Gedanken wieder zu Maths Brief. Seine zweiten letzten Worte an sie. Dabei hatte er sich ziemlich präzise ausgedrückt, was diesen Clown anbelangte. Ihr Mund verzog sich, ein Wimmern durchzog ihre Lippen und sie musste einige Male tief durchatmen, um den Tränen einen Aufschub zu gewähren. Innerlich verfluchte sie sich dafür, dass der Clown gewinnen würde, auch wenn sie wusste, dass es sich nicht um einen Wettbewerb handelte, so fühlte sie sich dennoch wie die Niete, die das Rennen verlor.
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