Sie weinte bitterlich, gönnte sich diesen einen Augenblick. Ließ die Angst raus, die Einsamkeit raushängen und den Schnodder laufen, als wäre dies der erste Tag und nicht der neunundvierzigste. Ganz recht. So lange war er bereits fort. Neunundvierzig Tage.
Ihr Herz schlotterte, als wolle es aus ihrer Brust raus, jetzt sofort und am besten für immer. Sie hatte das Gefühl die Schwere ihres Leids nicht länger tragen zu können, wollte es fortschaffen, beiseitelegen, vergraben. Doch das würde bedeuten auch Erinnerungen zu vergessen. Und das konnte sie nicht. Nein, niemals.
Auch wenn sich schlechte Erinnerungen mit guten paarten. An richtig miesen Tagen dachte sie an die Streitigkeiten zurück, was sie ihm für Worte an den Kopf geworfen hatte, welch Vorwürfe sie sich ausgedacht hatte, nur um die Oberhand zu gewinnen, um Recht zu behalten, bei was auch immer für einem Unsinn. Wie dumm Streitereien doch waren. Wozu taten Menschen das eigentlich? Es war doch viel schöner, wenn man sich liebte, oder etwa nicht? Reue und ein Gewissen, das sie nicht begleichen konnte, überwältigte sie in solchen Momenten und ließ sie denken, sie sei der grausamste Mensch, der diese Welt betreten hatte. Wie konnte sie überhaupt jemals daran gedacht haben zu streiten? Wenn doch sonnenklar war, dass einer von ihnen irgendwann sterben konnte? Allerdings hatte ihre Vorstellung vom Tod stets etwas anders ausgesehen: Gemeinsam mit schrumpeligen hundert Jahren im Schaukelstuhl aufgrund von Langeweile für immer einschlafen und nie wieder aufwachen.
Weshalb wurde nicht jedem Menschen dieses Schicksal vergönnt? Warum durften die einen hundert Jahre gemeinsam verbringen und andere wiederum nur zehn? Oder nur ein paar Tage?
Math war vor ihr gegangen. Viel zu früh.
Dann schellte ihr Smartphone.
Der Alarm.
Tief einatmen. Noch tiefer ausatmen. Wiederholen. Das Beben ihrer Lippen ließ nach. Taschentuch raus. Nase putzen. Luft zu fächern. Gesicht von den verbliebenen Tränen lösen.
Dann zog sie den Not Aus wieder raus und der Fahrstuhl nahm den Betrieb erneut auf.
Zwei Minuten Panik. Das war die Zeit, die sie sich verschaffte, um alles rauszulassen. Mehr durfte es nicht sein, damit sie nicht in einer Endlosschleife landete. In der Unendlichkeit ihrer eigenen Trauer. Doch das wollte sie nicht. Nicht an diesem Ort. Amelie verschloss sich vor der Welt, sie würde sich ihr nicht in einem Aufzug offenbaren.
Gleichzeitig möchte ein kleiner Teil von ihr diese Aufmerksamkeit bekommen. Wie schön es wäre, wenn sie jemand einfach für eine sehr lange Zeit in die Arme schloss und sie bedingungslos gernhatte. Sie liebte. Ihr zuhörte und all ihre Trauer und ihren Schmerz ertrug, ganz gleich, wie lange dieser anhalten würde.
Der einzige, der dazu bereit gewesen wäre, war jedoch der Grund, weshalb sie sich derart zerstört fühlte.
Mathiew Red war tot.
Die Fahrstuhltür öffnete sich und sie stieg aus, preschte Richtung Ausgang. Die frische Luft berauschte ihren Kreislauf und drehte ihren Puls wieder auf eine einigermaßen angenehme Spur.
Immerhin blieb ihr die Erinnerung an Maths Lachen den gesamten übrigen Vormittag im Ohr hängen, wie ein Ohrwurm ihres Lieblingslieds.
»Das hast du nicht wirklich getan!«, hatte er gesagt, in dem Moment sah sie seine betörend himmelblauen Augen so deutlich vor sich, als sehe sie ihn tatsächlich wirklich an. »Bluebird, wer hätte gedacht, dass du mich nach all den Jahren noch so überraschen kannst.« Bluebird .
Sie ging weiter. Zum Auto, mit ruhigen Schritten und ausdrucksloser Miene. So als wäre sie eben nicht innerlich ein kleines Stück weiter an dem Gedanken zerbrochen, dass sie Math nicht von diesem Amtstermin erzählen konnte. Sie konnte ihm nicht sagen, wie gemein diese Dame am Schalter gewesen war, die sie aufgenommen hatte. Ja, sie hätte ihm selbst von ihrer Zwei-Minuten-Nummer im Aufzug erzählen wollen, wie sie auf die Sekunde genau geheult und sich dann wieder aufgefrischt hatte. Er hätte sie ausgelacht, wie er es immer tat, wenn sie ihr Leben akribisch und nach einem Muster plante, das er nur zu genüsslich durcheinanderbrachte. Denn so war sie: Eine Planerin. Eine, die das Unvorbereitete verabscheute. Eine Perfektionistin. Eine, die nicht das Haus verlassen würde, bevor sie nicht mehrfach ihre Checklisten durchgegangen war. Eine mit drei Terminkalendern. Eine, die Überraschungspartys hasste und dennoch so tat, als hätte sie die größte Freude daran. Eine, die Pickel bekam, wenn Termine durcheinandergerieten. Eine, die nicht allein leben wollte und nicht einmal wusste, ob sie es konnte.
Die Autofahrt verlief ruhig. Schweigend, wie alles andere in ihrem Leben auch. Sie hörte keine Musik. Schloss alles an Geräuschen aus, schreckte dadurch allzu schnell vor jedem Laut zurück. Doch das war ihr egal. Sie konnte es nicht. Hören, wie das Leben fortschritt, weiterging.
Das Haus kam in Sichtweite. Ihr Haus. Ihr Zuhause. Einst gemeinsam, nun einsam, ganz für sie allein.
Die Haustür ließ sie vorsichtig hinter sich zufallen und trat in das finstre menschenleere Heim hinein. Sie zog ihre Schuhe im Laufen aus, ließ sie einfach irgendwo im Wege liegen und blieb stehen. Und in dem Moment wurde Amelie bewusst, dass sie es nie vergessen würde. Den Moment, als sie damals vor neunundvierzig Tagen nach Hause kam und von einer erschreckenden Stille begrüßt wurde. Wie sie nach seinem Namen rief und keine Antwort erhielt. Ihre Augen füllten sich wieder mit großen Brocken von Tränen, so schwer, wie die Welt es nicht sein konnte. Sie sah zu der Stelle hinüber. Dort, wo der Brief gelegen hatte. Die Angst hatte sie stets beschlichen. Immerzu und überall hin, doch sie war der festen Überzeugung gewesen jedes Problem richten zu können. Auf dem Kaminsims hatten sie gelegen. Die letzten Worte. Mittlerweile lagen sie auf ihrem Nachttisch, überströmt mit ihren Tränen.
Es tut mir leid , waren die ersten Buchstaben gewesen, die er zu Papier gebracht hatte.
Darunter: Ich liebe dich .
Sie spürte noch genau, wie ihr eiskalt geworden war, ihre Knie zu schlottern begonnen hatten, ihre Beine derart heftig zitterten, dass sie beinahe nicht imstande gewesen wäre weiterzugehen.
Doch sie schrie.
Sie schrie seinen Namen immer und immer wieder, bis sie ihn fand. Ihre Kehle krächzte und ätzte nach ihrem Wimmern und Schreien, ihrer puren ausweglosen Verzweiflung, als sie Math schließlich in ihrem Bett entdeckte.
Ja, das war es gewesen.
Math hatte sich das Leben genommen und sie mit einem Abschiedsbrief zurückgelassen.
Das unendliche Schweigen
In einer Idylle, Nahe London, Ende April 2017
Stille.
Es war merkwürdig, geradezu befremdlich. Sie fühlte sich, als sei dies nicht ihr Leben, sondern das einer gänzlich Anderen. Nicht sie starrte einsam ihre Schlafzimmerwand an. Sondern eine Fremde. Eine Andere eben. Doch ganz bestimmt nicht sie.
Eine Andere, Fremde. Nicht sie.
Schweigsamkeit drückte sich beengend in die Wände, presste die Luft aus ihrem Heim raus und hinterließ Leere. Absolute, unwiderrufliche Leere.
Besuch empfing sie nicht. Mehrfach schon hatten es Freunde und Familie versucht, doch sie öffnete die Tür nicht. Als sie zu Beginn noch beharrlich waren, schrie sie ihnen aus vollem Leib entgegen, dass sie in Ruhe gelassen werden wolle. Dann, als ihr schließlich die Kraft aus dem Körper glitt, wie die Luft eines noch frisch belebten Luftballons, da hängte sie ein Schild an die Tür: Bitte, nie wieder stören. Als sie es dennoch taten, malte sie ein gewaltiges Plakat:
VERSCHWINDET! LASST MICH ALLEIN!
Amelie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie sie über sie redeten. Dass sie durchgedreht sei. Eine Verrückte. Vollkommen wahnsinnig geworden. Gerade sie , würden sie sagen. Sie, die alles plant. Alles durchdenkt. Zerdenkt.
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