Es tut mir leid, Bluebird. So furchtbar leid. Die Worte klingen dämlich, phrasenhaft und irgendwie nicht aufrichtig genug. Es reicht nicht aus, es zu sagen, allerdings käme ich mir unverschämt vor, würde ich sie nicht wenigstens ausgeschrieben haben.
Bluebird, ich weiß nicht, wie ich dir erklären kann, wie sehr es mich schmerzt zu wissen, was ich dir antun werde. Du kannst dir nicht annähernd vorstellen, wie sehr ich mich für diesen Brief und alles, was ich bereit bin dir anzutun, verachte.
Ich kann meine Gefühle für dich nicht ändern, ich liebe dich so sehr, dass es mich wahnsinnig macht. Ich konnte einfach nicht anders, als dich zu heiraten. Es ging nicht. Ich kann dich nicht loslassen, dich nicht vergessen. Ich liebe dich und vermutlich habe ich das bislang nicht oft genug geschrieben. Vielleicht schreibe ich es nachträglich noch überall an den Rand hin, dort oben ist über dem Datum noch Platz. Es würde vielleicht etwas blöd aussehen, aber wenigstens steht dann bereits zu Beginn das Richtige.
Amelie, siehst du wie ruhig die Schrift von mir ist? Es liegt daran, dass diese Worte so wahr sind, dass ich nicht darüber nachdenken muss, bevor ich den Stift ansetze. Es ist so leicht dir zu sagen, was ich für dich empfinde. Schwierig ist es hingegen die Gedanken dahinter richtig zu fassen. Ich bin mir nicht sicher, ob dir klar ist, was diese Worte für mich wirklich bedeuten. Amelie du bist der erste Mensch, den ich wahrhaftig liebe und ich weiß mit absoluter Sicherheit, dass du auch der letzte sein wirst, dem ich mich jemals derart anvertrauen könnte.
Ich möchte ewig weiterschreiben, bis die Sonne aufgeht und darüber hinaus. Dabei traue ich mich nicht wirklich den Punkt zu setzen, der diesen Brief beendet. Verstehst du das? Ich will kein Ende, ich will nicht gehen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie mich dieser Gedanke zerfrisst. Ich wünschte du würdest mich ohne diese Krankheit kennen. Du glaubst gar nicht wie tief dieses Verlangen sitzt, wie oft ich mir unser Leben ausmale, ohne dieses zweite Gesicht von mir.
Es gibt keine Frau, die mich derart verrückt macht. Für niemanden sonst hätte ich so lange in der Bibliothek ausgeharrt und gewartet, bis sie mir einen genervten Blick zuwirft. Ich liebe es übrigens, wie du die Augen verdrehst, wenn du mich ansiehst und ich wieder irgendeinen Blödsinn von mir gegeben habe. Wenn ich ganz ehrlich bin, rede ich gerne etwas mehr Unsinn in deiner Nähe, nur, um dich zu ärgern.
Ich schweife wieder ab, du merkst, ich will nicht zum Schluss kommen, will nicht gehen, will dir nicht meine letzten Worte schreiben, doch es muss sein. Also zwinge ich mich endlich zu dem wichtigen Part zu gelangen, obwohl wir das beide gerade nicht wollen.
Ganz gleich, was in der Zwischenzeit geschehen sollte, eines weiß ich unumstritten: Ich dich liebe, Amelie. Du wirst es leugnen, du wirst denken, es hätte etwas mit dir zu tun, dass du schuld bist.
Doch lasse mich dir eines mit Sicherheit sagen:
Du bist der Grund, weshalb ich überhaupt solange durchgehalten habe.
Vergiss nicht, dass ich dich liebe, für immer.
Es tut mir leid, Amelie. Meine Bluebird. Mein Alles.
Math
P.S.
Ich habe noch etwas vergessen.
Nein, hier kommt nichts Romantisches. Ich bin jetzt schließlich dein Ehemann, also sollte in so einem Brief etwas Unanständiges nicht fehlen: Du liegst gerade nackt in unserem Bett in unserer Hotelsuite, die wir uns absolut nicht leisten können. Dabei sabberst du etwas und schnarchst unfassbar laut. Aber lass mich dir eines sehr genau sagen: Ich würde dich trotzdem hier, jetzt sofort und überall in diesem Zimmer nehmen.
P.P.S.
Das habe ich auch.
Scherbenland & Weltuntergang
London, erste Märzwoche 2017
Die Welt starb langsam dahin. Der Himmel zerbarst in gewaltigen Bruchstücken entlang des Horizonts und schlug pulsierende Wolkengebirge in die Luft. Bäume wirbelten in der Atmosphäre, Donner schlug auf die Erde nieder. Wirbelwinde durchsiedelten die Wäldereien, entrissen alles ihrem Anker, fegten über die Felder, als handle es sich lediglich um Kerzen eines Geburtstagskuchens, die gerade ausgepustet wurden.
Alles fand sein Ende.
Derlei Vorstellungen umspielten Amelies Gedanken den gesamten Tag über. Ihre grasgrünen müden Augen beobachteten über die letzten Wochen hinweg bereits diese Welt, wie sie fortschritt, sich der Sonnenaufgang mit dem Sonnenuntergang die Hand reichte, die Mittagssonne fröhlich auf die blühenden Wiesen hinab schien und nichts stehen geblieben war. Alles lebte noch, alles war wie gewohnt, alles war so normal. Sie genoss es für einige Momente des Tages in diese Albtraum-Weltuntergangs-Szenarien zu verfallen und sich einzubilden, alles würde den Bach runtergehen. Alles wäre verloren.
Fort.
Kaputt.
Für immer.
Warum lebte die Welt noch, während sie selbst das Gefühl hatte, dass alles in Fetzen gerissen wurde?
Das Kissen neben ihrem eigenen würde für immer leer bleiben. Der Tisch deckte sich nur für sie selbst.
Einsamkeit lebte in diesem Zuhause, der Tod löste das Leben selbstverständlich ab. Gespräche über das Wetter wurden weitergeführt. Niemand interessierte sich für das Schwinden eines Menschenlebens. Immerhin starben überall zu jeder Zeit, gerade jetzt in diesem Augenblick, Menschen auf der ganzen Welt. Es war schlichtweg normal.
Sterben war normal.
Wieso war das nicht eigenartig?
Der Tod kündigte sich manchmal an, doch häufig schlich er sich, ungeachtet von Zeugen und Zeichen, an seine Opfer heran und nahm sie erbarmungslos mit sich. Der Tod scherte sich nicht um die Hinterbliebenen. Der Tod fragte nicht, ob man mehr Zeit benötigte, um noch zu klären, zu reden und letzte Worte zu tauschen.
Noch schlimmer jedoch als der Tod war es die Gesellschaft, die erwartete, dass das Leben voranging. Trauern war erlaubt, doch nicht zu lange. Wer zu lange trauerte, der wurde als Spinner abgestempelt, jemand, der übertreibe oder nach Aufmerksamkeit lechzte. Wieso maßte sich die Welt an zu wissen, wann es richtig wäre jemanden vergessen zu müssen? Weshalb musste man dies überhaupt? Weiterleben?
Wozu?
Amelie Red zählte derweilen zu der Kategorie von Menschen, die all das nicht akzeptierte. Nicht weiterlebte. Nicht aufhörte sich zu erinnern. Immer und immer wieder.
Allerdings musste sie an dem heutigen Tag normal sein. Für einen winzigen Augenblick. Dies schien auch die Frau zu
erwarten, die vor Amelie saß und auf eine Antwort wartete.
»Wie bitte?«, fragte Amelie und wunderte sich wie seltsam fremd ihre Stimme klang. Dabei konnte sie nicht genau sagen, wann sie zuletzt mit jemanden gesprochen hatte. Sie fühlte sich nicht wie sie selbst, wunderte sich, wer sie einst gewesen war. Amelie konnte sich nicht erinnern.
»Mrs—«
»Miss«, unterbrach Amelie ihr Gegenüber und erschrak selbst für einen Moment. Was hatte sie gerade gesagt? Hatte sie das tatsächlich laut gesagt? Sie wusste nicht einmal, dass sie es gedacht hatte.
»Verzeihung, in den Unterlagen steht Sie seien verheiratet?« Die Frau runzelte verwirrt die Stirn und warf Amelie einen fragenden Blick zu. Amelie hatte das Gefühl an ihrem Atem zu ersticken, wenn sie ihre Augen nicht von der Dame lösen würde.
Damals . Damals, es war so lange her. Als sie den Brief hatte ausfüllen müssen, da waren die Angaben schließlich noch korrekt gewesen. Sie hätte ja nicht ahnen können… oder etwa doch?
Jetzt nicht mehr, nie wieder, niemals.
Ja, woher sollte diese Fremde, die gegenüber von ihr hinter einem viel zu klein geratenen Schreibtisch geklemmt saß, ihre Unterlagen durchblätterte und nur ihren Job tat, das auch wissen.
Viel mehr stellte sich die Frage, wieso Amelie sich überhaupt so geäußert hatte. Warum hatte sie die Frau korrigiert? Wieso überhaupt etwas gesagt, hatte sie sich schließlich eigentlich vorgenommen so wenig wie möglich zu sprechen, um eben nicht in eine ungewollte Situation zu geraten. Und dann das.
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