Du musst nach vorne blicken.
Oder ihr persönlicher Favorit: Willst du dir vielleicht professionelle Hilfe holen?
Dabei wusste sie, dass sie die Menschen um sich herum verscheuchte, vielleicht irgendwann einsam endete und schlussendlich der Postbote sie irgendwo tot auffinden könnte, doch das war ihr für den Moment nicht weiter wichtig.
Bis allerdings zu diesem Tag. Es war mittlerweile über drei Monate her. Genau genommen siebenundneunzig Tage.
Nach all dieser Zeit erklang schließlich ein terroristisches Klopfen an ihrer Tür und schien jeden Moment diese zu durchbrechen, wenn derjenige nicht alsbald aufhören würde. Dabei wunderte Amelie sich, wie dieser jemand, der da so aggressiv ihre Haustür misshandelte, sich nur annähernd vorstellen konnte, dass irgendein vernünftiger Mensch auf diesem Planten überhaupt öffnen würde.
POOOOOOOMMMM!
POOOOOOOOMMMM!
POOOOOOOOOMMMMM!
Begonnen hatte das Klopfen, was vielmehr so klang, als würde jemand mit dem Fuß gegen die Haustür stampfen, als Amelie gerade auf der Waage stand. So manch einer verlor sein Hungergefühl, während der anhaltenden Trauer, aß nicht ein bisschen und magerte derart ab, dass selbst das Erscheinungsbild das Elend, welches man durchlitt, nur allzu deutlich hervortat. Bei Amelie war es etwas anders zugegangen.
Ihr Leben lang hatte sie stets auf ihre Figur geachtet und war mehr als gertenschlank gewesen. Sie aß ausschließlich gesund und genehmigte sich nicht einmal Kaffee oder eine Diät-Cola. Disziplin gehörte zu einer ihrer Tugenden, weshalb sie es auch beruflich hoch hinausgeschafft hatte. Niemals verließ sie ihren Pfad der Vernunft und erlaubte sich zu keinem Zeitpunkt ihres Lebens Fehltritte.
Als Math allerdings verschwand, wusste sie sich nicht mehr zu erklären, weshalb sie eigentlich noch versuchen sollte, diesen oberflächlichen Schein zu wahren. Wozu all die Bemühungen, die harte Arbeit, die Strenge und Kraft, die sie aufgebracht hatte, um sich dieses Leben zu errichten, wenn es am Ende alles nicht getaugt oder nicht ausgereicht hatte, um ihn hier bei ihr zu halten?
Amelie war es leid zu kämpfen. Einen Kampf, den sie gegen ihren Willen und all ihren Bemühungen, nie im Stande gewesen war zu gewinnen. Er ist von ihr gegangen und es wäre ganz gleich gewesen, was sie getan hätte, um es zu verhindern. Kein Wort dieser Welt hätte ihn retten können. Denn wie es schien, war er schon viel länger verloren, als es ihr jemals bewusst gewesen war.
Von dieser Erkenntnis getroffen, ließ sie ihre Schilder fallen und hörte einfach auf sie selbst zu sein. Wozu höflich und freundlich sein, Anrufe beantworten und der Welt dort draußen gerecht werden? Warum sollte sie einer Gesellschaft, die sie nicht verstand, eine Antwort schulden und sich selbst so aufopfern, dass es sie von innen heraus zerfraß?
Amelie wollte schlichtweg nicht mehr. Sie konnte nicht mehr diese Marionette sein, die sich zum Willen anderer lenken ließ, damit das Gewissen Fremder beruhigt war und sie den Schmerz und das Leid nicht mitansehen mussten. Also ließ sie alles raus. Zeigte, dass sie litt, ein Teil von ihr fort war und dies für immer.
Amelie Red war gebrochen. Doch leider zerbrach ihr Körper nicht in einem glatten Schnitt. Es war unschön, würde Narben hinterlassen und vielleicht nicht einmal mehr zu retten sein. Selbst wenn die Wunden irgendwann geheilt sein werden, würden die richtigen Stücke fehlen, um sie wieder Ganz werden zu lassen.
Amelie würde nie wieder so leben können wie zuvor. Diese neue Seite von ihr hatte einen großen Teil verloren und sie war sich nicht einmal sicher, ob das, was fehlte, jemals auch nur annähernd wieder gefüllt werden konnte.
Einen Ersatz für die Liebe, gab es nämlich nicht.
Abgesehen davon, dass ihre Pflege zu wünschen übrigließ, ihre Haare so fettig waren, dass sie daraus gewiss hätte irgendetwas frittieren können, Mitesser ihre Haut übersäten, als hätte sie zu einer riesigen Feier geladen und sie begonnen hatte Kleidung zu tragen, die bereits im Wäschekorb vor sich hin muffelte, hatte sie angefangen sich täglich mit Pizza beliefern zu lassen.
Es war nicht so, dass sie zuvor kein Fan von Fastfood gewesen war. Amelie und Mathiew hatten unwahrscheinlich viel Zeit in der Küche verbracht, um die verrücktesten Dinge zu kochen. Dabei konnte sich so eine Kochpartie mal gerne um Stunden in die Länge ziehen. Diese Zeit hatte sie genossen. Stets etwas Anderes zu probieren. Nie den gleichen Trott in sich reinzuschlingen. Kochen konnte so hingebungsvoll sein, wenn die nötige Zeit und Leidenschaft genutzt wurde, um aus den Gerichten etwas ganz und gar Besonders zu machen. Dabei kam es nicht selten vor, dass sie während der Zubereitung so viel genascht und getrödelt hatten, dass es zum eigentlichen Hauptgang gar nicht mehr gekommen war. Sie hatten gerne experimentiert, unbekannte Früchte und Gewürze probiert, waren über den orientalischen Markt gelaufen, mit Speisen zurückgekehrt, die sie erst im Internet hatten nachschlagen müssen. Ja, mit Math war das möglich gewesen. Er hatte gerne Dinge probiert, nicht nur, was das Kochen betraf. Nichts schreckte ihn jemals zurück. Darum war es umso erstaunlicher für Amelie gewesen, dass dieser scheinbar lebensfrohe Mensch, eigentlich depressiv war, getarnt hinter Abenteuern und diesem Lachen.
Sein Geheimnis hatte sie erst entdeckt, als sie zusammengezogen waren. Vor vielen Jahren. Und sie war überzeugt gewesen, dass sie es schaffen würden. Gemeinsam. Mit seinem Lachen und ihrer Kraft.
Die Küche konnte sie kaum betreten. Zu niederschmetternd war der Gedanke, dass sie dort gemeinsam so viele Stunden verbracht hatten und es nie wieder tun würden. Dass sie ihn nicht umarmen konnte, während er irgendeine Kreation auf dem Herd verbrennen ließ. Oder mit Feuer spielte. Dass sie gegenseitig blind irgendwelche Dinge in die Töpfe schütteten und das Kochen genossen. Es war wie ein Spiel gewesen. Doch ohne ihn, würde sie den Spaß darin nicht erkennen können. Sie verspürte nicht die geringste Lust sich alleine so lange vor den Herd zu stellen, um für sich ganz allein irgendeinen Brei zu kochen, nur damit sie satt wurde.
Also war für Amelie Red die Küche geschlossen.
Und das für immer.
Stattdessen begutachtete sie die Prospekte, die ihr Postbote hin und wieder in ihre Posttonne fallen ließ. Unter anderem fiel ihr der Pizzalieferservice auf, der innerhalb von dreißig Minuten lieferte und eine Geldzurückgarantie versprach. Bislang waren sie mehr als pünktlich gewesen, doch das machte nichts. Dafür musste sie nicht hungernd auf der Couch verelenden, was allerdings auch ihre größte Jeans mittlerweile zur Kenntnis nahm.
Aus Neugier, ob es an der Jeans, die vielleicht bedingt durch eine irrationale Luftfeuchtigkeit, oder Heinzelmännchen bei Nacht (man wusste ja nie, wie es um einen geschieht) oder aber an dem zu schnellen Pizzalieferservice lag, wagte Amelie einen Gang auf die Waage. Sie wunderte sich, warum sie sich darum eigentlich scherte. Doch irgendwie trieb sie wohl die Neugier dorthin, als wollte sie erfahren, wie weit sie ihren Körper bereits zerstört hatte.
In dem Moment, da die Nadel ausschlug, polterte es an der Tür und für einen winzigen Augenblick, war sich Amelie nicht sicher, ob das Klopfen oder die Zahl sie derart zusammenschrecken ließ.
Um ein möglichst vortreffliches Ergebnis zu erlangen, hatte sich Amelie natürlich nackt auf die Waage gestellt. Nicht der beste Moment, um einen ungewollten Besucher zu empfangen. Schon gar nicht solch einen penetranten. Besonders lange hielt das Klopfen nicht an. Es verlief eher testweise: Zuerst ein störrisches Hämmern. Dann Pause. Wahrscheinlich um zu lauschen, ob jemand dadurch vom Stuhl gefallen war. Dann ein erneutes Poltern, nur noch lauter. So laut, dass man meinen könnte, die Tür würde diese ungenierte Art nicht mehr allzu lange überleben.
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