Amelie hielt die Luft an und wartete.
Ihr war klar, dass sie die Tür niemals öffnen würde. Das einzige, was es noch zu entscheiden galt, war, ob sie die Polizei rufen müsste. Ob da jemand mit ihr Scherze trieb? Nun, darauf ließ sich Amelie nicht ein. Sie stieg ganz unbeeindruckt wieder auf die Waage. Nur, um ganz sicher zu gehen, ob die Nadel nicht vielleicht durch das Beben der Tür derart weit ausgeschlagen war. Es war still. Verdammt . Das Ergebnis war korrekt gewesen: Zwölf Kilo in zwölf Wochen. Nur, dass es leider kein Titel eines Diät-Bestsellers war, sondern die saftigen Pizzen, die sich als schleichendes Hüftgold an sie geheftet hatten.
Amelie wusste nicht genau, wie lange sie diese rote Nadel der Waage anstarrte, um zu begreifen, was für eine absurde Zahl dort eigentlich angezeigt wurde. Allerdings konnte sie mit ziemlicher Sicherheit sagen, wann sie von der Waage wieder hinunterstieg: Nämlich, als ein Clown mit Farbeimern plötzlich in ihrer Badezimmertür stand. In dem Moment, indem sie ihn registrierte, erkannte auch er, in welch missliche Lage er sich hineinmanövriert hatte.
Der Clown hatte die Tür so schnell zu geschnellt, dass Amelie sich für einen winzig kleinen Augenblick nicht wirklich sicher war, ob dies gerade wirklich passierte: Sie befand sich nackt auf ihrer Waage im Badezimmer im ersten Stock und ein Clown stand im Türrahmen. Mit Farbeimern.
Ein Clown.
EIN CLOWN.
Ein wirklich echter, geschminkter, mit einer kräftigen roten Nase bestückter Clown. Samt Kostüm und wenn sich ihre Erinnerung von diesem recht kurzen (und dann wiederum viel zu langen) Moment nicht trog, dann hatte er auch diese Luftballons bei sich getragen, aus denen sie für gewöhnlich bei Kindergeburtstagen Tiere knoteten. Nur, dass es sich hier ganz gewiss um keinen Kindergeburtstag handelte.
Dann schrie sie. Endlich. Von der anderen Seite der Badezimmertür erklangen ebenfalls Laute.
»VERSCHWINDEN SIE!«
»Sorry! Ich dachte ich hätte mich mehr als deutlich angekündigt!«
»RAUS! ICH RUFE DIE POLIZEI!«
»Kein wirklich guter Bluff. Du bist nackt, kein Telefon in Sicht Schätzchen.«
»RAUS! RAUS!« Amelie starrte entsetzt die Tür an. Ihr Herz pochte fürchterlich. Was geschah hier eigentlich? Was war das für ein makabrer Scherz? Hatte sie nicht bereits genug durchlitten? Musste jetzt auch noch ein Clown in ihr Haus einbrechen, um… ja, was machte der eigentlich hier? Wollte er sie umbringen? Nun, dafür hätte er die Badezimmertür wohl eher offenstehen gelassen. Hatte er dann etwa vor sie auszurauben? In einem Clownskostüm wohl eher eigenartig. Andererseits: Was war bitteschön normal an dieser Situation? Es hätte zweifelsfrei einfach keinen vernünftigen Grund geben können. Dies konnte nur bedeuten: Ein Perverser. Wunderbar. Das würde ihr doch kein Mensch glauben. Math hingegen schon.
Bitterkeit breitete sich auf ihrer Zunge aus, als sie daran denken musste, dass sie ihm diese Verrücktheit nicht erzählen konnte. Wie sie da so auf der Waage stand und ein Clown sie splitterfasernackt angestarrt und dann die Tür verschlossen hatte. Außer ihm hätte sie das niemandem erzählen können. Er wäre wahrscheinlich neidisch gewesen, auf diesen Moment und hätte ihr diese Geschichte für immer nachgetragen, zu jedem Augenblick sie damit aufgezogen und niemals losgelassen. Womöglich hätte er ihr zum Geburtstag eine rote Nase geschenkt, nur um sie zu ärgern. Doch das ging nun nicht mehr.
»Ich bin kein Verrückter, auch wenn unser erstes Zusammentreffen wohl eher… unglücklich verlaufen ist.«
»RAUS HABE ICH GESAGT!« Dann entkam von der Tür ein eigenartiges rauschendes Geräusch, welches Amelie schließlich von der Waage runtersteigen ließ. Sie tapste verängstigt rückwärts Richtung Fenster, wobei ihr, auch ohne einen Blick hinauszuwerfen, bewusst war, dass sie wohl eher einen Kampf mit diesem Clown überleben würde, als einen Sprung durch das Fenster. Während ihre Gedanken sich mit dem Geräusch so ziemlich jedes schreckliche Szenario zusammenreimten, was von giftigem, betäubendem Gas bis hin zu einer Waffe reichte, entpuppte sich das Etwas, als ein Stück Papier, welches der Clown durch die Tür hindurch schob.
»Wie gesagt, ich bin nicht verrückt. Aber lies ruhig selbst. Ich fange in der Zwischenzeit unten schon einmal an.«
»Was? Moment — womit? WAS?«
Ihr Herz beruhigte sich, als sie tatsächlich hörte, wie der Mann die Stufen hinunterging. Mit Skepsis betrachtete Amelie zunächst von der Ferne das Papier, welches nun so unschuldig auf ihrem gefliesten Boden lag. Die Fliesen waren eine einzige Katastrophe, was Amelie dazu brachte für einen flüchtigen Augenblick vage zu lächeln. Das Haus war bei ihrem Kauf stark renovierungsbedürftig gewesen. Doch es befand sich in einer traumhaften Umgebung, eingebettet zwischen Feldern und Wäldern, etwas einsam abgelegen und gleichzeitig nahe der Stadt.
Ihr Zuhause war ein Zufluchtsort und eine Oase gewesen. Der Platz, an dem ihre Liebe noch weiterwachsen sollte.
Amelie hatte sich in dieses Haus und die Umgebung verliebt, allerdings direkt verneint, es zu kaufen. Albern wäre es, schließlich müsste so viel gemacht werden und um jemanden zu beauftragen, dafür hätten sie kein Geld. Sie hatten gerade genug, um dieses Haus mit einem Kredit kaufen zu dürfen. Doch Math war der Abenteurer. Er liebte Herausforderungen, stichelte sie an, zwang sie dieses Wagnis einzugehen, auf seine Art. Er wusste bis wohin er sie schubsen musste, um ihre Grenzen abzuwägen. Dabei wird er das Glänzen in ihren Augen gesehen haben, als sie sich in dieses unfassbare Haus und die Lage verliebt hatte und nur ihr Zwang zur Sicherheit sie von diesem Heim fernhielt. Math war immer der einzige gewesen, der es geschafft hatte, diese Barriere zu überwinden und sie immer ins kalte Wasser schmiss. Er wollte sehen, was sie aus solch einer Situation machen würde, wie sie durchdrehte, wahnsinnig wurde, mit ihrer durchgeplanten Art. Er genoss es, wenn das absolute Chaos um Amelie ausbrach und sie das Gefühl hatte, die Wände aufwärts laufen zu können.
So hatte er es auch hierbei geschafft. Schließlich hatten sie gemeinsam den Kaufvertrag unterschrieben und das, obwohl sie beide jeweils keine Handwerksgenies waren. So wirkte auch der Fußboden im Badezimmer. Als hätten Dilettanten ihr Werk versucht. Nicht eine Fliese lag eben oder gar gerade auf dem Boden. Doch das machte nichts. Den Tag, als sie die Fliesen gekauft und verlegt hatten, würde sie nicht vergessen. Dabei konnte sie nicht abstreiten, dass sie sich aufgeregt und am Ende wahrscheinlich das meiste verunstaltet hatte.
Als Math vorschlug die Fliesen selbst zu verlegen, hatte sie direkt dagegen argumentiert. Ihr Vater könne das machen, das wäre wohl die geschickteste Lösung. Doch Math wollte sein Eigenheim selbst errichten, ohne jedwede Hilfe. Er hatte sie in den Wahnsinn getrieben und eigentlich waren sie am Ende so verblieben, dass er sich wenigstens Ratschläge erteilen lassen würde. Als sie dann jedoch nach einem langen Arbeitstag nach Hause gekommen war, hatte Math es versucht , wie er es ausdrückte. Leider mit eher weniger Erfolg. Dabei hatte er kläglich darauf gehofft, dass es ihr nicht weiter auffallen würde und ihr zunächst nichts erzählt. Dass er etwas auffällig versucht hatte sie vom Badezimmer fernzuhalten, war ihr damals ebenfalls nicht entgangen, was sie jedoch eher dazu antrieb hochzugehen und einen Blick hineinzuwerfen. Hätte sie es nur bei einem Anblick belassen, so wäre das Endergebnis wahrscheinlich nicht so verheerend gewesen: Denn Amelie war wutentbrannt auf den noch nassen Beton getreten, in dem die Fliesen wenige Stunden zuvor eher weniger ordentlich und gerade verlegt worden waren.
Jetzt waren die Fliesen nicht nur krumm und schief, sondern auch so uneben, dass man bergauf lief, wenn man das Bad betrat. Ganz zu Beginn sogar, genau dort, wo das Blatt Papier vom Clown nun hineingeschoben worden war, da hatte Amelie ihre Fußspitze hineingekrallt, als sie ins Bad gestürmt war und dann gemerkt hatte, dass der Boden unter ihr nachgab. Dort hatte sich dann eine Kuhle gefügt, die sie nicht mehr ausgeglichen hatten.
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