An dieser Stelle nistete sich nun dieser Zettel ein und wartete darauf von ihr aufgehoben zu werden.
Amelie atmete tief durch und ließ sich auf diese Situation ein. Der Clown war hinabgegangen. Ihre Kleidung lag leider im Schlafzimmer. Schließlich hatte sie nicht damit gerechnet, dass sie sich so schnell wieder anziehen müsste. Also blieb ihr die Möglichkeit aus dem Bad, so flink es ihr möglich war, zu verschwinden, sich rasch etwas einigermaßen weniger Stinkendes überzustreifen und dann das Haustelefon zu suchen. Dabei fiel ihr wieder ein, dass sie es zerstört hatte. Und ihr Smartphone lag entladen irgendwo in einer ihr unbekannten Ecke. Wunderbar. Da drängte sich wochenlang die Außenwelt in ihr Leben, um ihr etwas, wie sie ihr zu sagen pflegten, Gutes zu tun und wenn sie dann wirklich Hilfe brauchte, konnte sie niemanden rufen, weil sie sich vollkommen isoliert hatte. Ausgezeichnet gelaufen.
Einen Schritt nach dem anderen. Zuerst: Kleidung.
Amelie hatte zunächst gar nicht in Erwägung gezogen sich das, was der Clown dort hinuntergeschoben hatte, überhaupt näher zu betrachten. Ganz gewiss handelte es sich um etwas Unnützes, was sie unnötig ablenken sollte. Als sie dann zur Tür hinüberging und einen kleinen Spalt mit vorsichtigen Fingern öffnete, wich ihr Blick doch etwas von Neugier geplagt hinunter auf das Papier. Sie verharrte in ihrer Bewegung, ließ die Tür außer Acht und ging in die Knie. Amelie konnte gar nicht genau sagen, wie lange sie diesen Brief ansah, bevor sie ihn endlich zwischen die Finger nahm. Maths Handschrift würde sie überall herauslesen können. Er nutzte stets einen Füllfederhalter, weil es ihm gefiel, wie die Tinte zerfloss und etwas Vergängliches bei sich trug.
Dort standen sie niedergeschrieben, ganz unerwartet, in einem Brief auf ihrem Badezimmerfußboden: Die letzten Worte von Mathiew Red, ihrem toten Ehemann.
Regenbogen im Treppenhaus
Amelie saß in ihrem Wohnzimmer, das Gesicht in ihren Händen vergraben und schwieg. Dann holte sie tief Luft, füllte ihren Lungen mit dem Leben, das sie in dem Moment dringend benötigte. Und Geduld. Unfassbar viel Geduld.
»Ich finde es ja ganz hübsch, so, wie es jetzt aussieht.« Das war der Clown. Gewiss, er befand sich immer noch in ihren eigenen vier Wänden und betrachtete mit vergnügtem Gesicht, wie Amelie mit sich rang die Fassung zu wahren. »Wobei ein bisschen mehr blau hätte es noch hübscher aussehen lassen.«
»Was tun Sie hier?« Obwohl Amelies Puls weiterhin auf einem sehr hohen Niveau galoppierte, versuchte sie dennoch irgendwie ruhig zu bleiben.
»Das hast du doch gerade in dem Brief gelesen, oder nicht? Ich finde, er hat sich sehr klar ausgedrückt. Wo ich auch wieder beim eigentlichen Thema wäre. Ich muss dann mal weitermachen, dafür wurde ich schließlich bezahlt.«
»Halt! Nein, nein! Bitte! Hören Sie auf dieses Haus zu zerstören!«
»Als Zerstören würde ich es nun nicht gerade bezeichnen.« Dieser Fremde mochte diese Situation ungemein komisch finden. Amelie konnte sich nicht einmal ein müdes Lächeln abgewinnen.
»Ich zahle das Doppelte, aber bitte, verschwinden Sie. Diesen Brief hat er verfasst… er war nicht er selbst. Und jetzt gehen Sie bitte.«
»Das kann ich nicht. Ich werde es auch nicht. Weißt du: Mir hat er auch einen Brief mit sehr klaren Instruktionen geschrieben. Er war unmissverständlich.« Amelie sah auf, doch der Clown war bereits verschwunden. Sofort war sie auf den Beinen. Diesen Wahnsinnigen musste sie stoppen, bevor noch weitere Räumlichkeiten darunter litten. Doch zu spät: Viel zu spät.
Sie hörte es, bevor sie in das richtige Zimmer lief: Der Clown stand mit einem weiteren Farbeimer im nächsten Raum, dieses Mal der Küche, und schüttete einfach den gesamten Behälter Farbe mit einem ordentlichen Schwung gegen die Wand. Im Wohnzimmer hatte er die Decke gewählt, von wo aus nun ein stechender Blauton zäh hinab regnete.
»STOP!« Amelie stellte sich vor ihn hin. Vielmehr zwischen ihm und der Wand. Jeder normale Mensch hätte inngehalten und aufgehört. Nicht dieser Mann. Er holte kräftig aus und PLATSCH schüttete den restlichen Schuss Farbe direkt in Amelies Gesicht.
»Puh, ein Glück, dass du Mund und Augen noch einmal rechtzeitig geschlossen hast. Das hätte auch schiefgehen können.« Amelie rührte sich nicht mehr. Das durfte schlichtweg nicht wahr sein. Es war einfach unmöglich.
Ein Clown war in ihr Haus eingedrungen (wie es sich herausstellte mit einem Schlüssel, dem Math ihm übergeben hatte), hatte sie splitterfasernackt in ihrem schlechtesten körperlichen Zustand betrachtet, ihr einen Brief von Math übergeben und angefangen ihr gesamtes Haus von Innen mit Farbe zu bewerfen. Bereits der Teil mit dem Clown, der überhaupt an der Tür angeklopft hatte, war schwer begreiflich, geschweige denn vom Rest der Geschichte. Wie sollte sie das nur jemals irgendeiner Menschenseele erklären? Am besten einfach gar nicht.
Amelie erhob ihre Finger und wischte sich mit einer unschlüssigen Bewegung vorsichtig die Farbe von den Augen. Ganz langsam versuchte sie diese zu öffnen, merkte an der Müßigkeit, dass sie wohl eher Wasser benötigte, bevor sie die Farbe vollständig ins Auge hineintrieb. Wunderbar. Jetzt konnte sie diesen Clown überhaupt nicht mehr bremsen, weil sie zu beschäftigt war, seinen Farbüberfall zu beseitigen, den sie obendrein unklugerweise noch selbst zu verschulden hatte. Es war gewiss nicht ihre genialste Idee gewesen, sich einem Clown, einer weißen Wand und einem vollen Eimer Farbe entgegenzustellen. Vermutlich hätte sie ihn eher von hinten angreifen sollen, das wäre zumindest effektiver gewesen und sie wäre nicht schmutzig.
»Ich finde ja, so eine Dusche täte dir gut. Deine Familie wird wahrscheinlich zu nett sein, um es dir zu sagen, aber du stinkst echt fürchterlich. Und das so richtig mächtig. Eigentlich kannst du sogar von Glück sprechen, dass du jetzt ganz Orange im Gesicht bist.« In dem Punkt konnte Amelie wohl kaum widersprechen. Zumindest, was die Dusche betraf.
Amelie seufzte und gab den Kampf auf. Dann sollte der Clown eben fortführen, was er begonnen hatte. Sie lief an dem tropfenden Wohnzimmer vorbei und ging wieder hinauf in den Raum, in dem alles begonnen hatte: Dem Badezimmer.
Da Amelie sich nicht mehr sonderlich gewaschen hatte, standen zu ihrem Glück noch sämtliche Pflegeprodukte in der Dusche randvoll gefüllt und warteten begierig darauf von ihr endlich wieder genutzt zu werden.
Sie schloss die Tür ab, zog sich erneut aus und stellte sich unter die Dusche. Dabei wartete sie nicht ab, bis das Wasser eine angenehme Temperatur angenommen hatte, sondern machte es einfach direkt an. Eiskalte Tropfen rieselten an ihr herab und gaben ihr für einen kleinen Augenblick das Gefühl wieder etwas mehr zu leben.
Eine Dusche hatte einen sehr eigenartigen Anklang. Diese Reinheit zu durchleben gab dem Körper, ohne, dass sie es sonderlich beeinflussen oder verhindern konnte, einen wohltuenden Nachgeschmack. Erst, als sich ihre Finger auf ihrer Kopfhaut einmassierten, fühlte sie eine gewisse Entspannung und vergas für ein paar Minuten, dass ein künstlerisch eher unbegabter Clown sich unweit von ihr entfernt in einem anderen Raum aufhielt. In dem Moment war sie nur für sich allein.
Während sie das plätschernde Wasser in sich aufsog und die Welt dort draußen für diese Weile kaum mehr für sie existierte, holten sie die Worte von Math ein. Jene letzten Worte, in einem fremden Brief, die er an sie gerichtet hatte. Einem zweiten Abschiedsbrief. Einer, der wesentlich aktueller gewesen war, als der Erste.
Hier an diesem Ort, in der fließend kalten Dusche, dort konnte sie weinen, so viele Tränen, wie es ihre Augen zuließen. Denn diese würde niemand jemals sehen. Hier war sie alleine.
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