Zwei Stunden nachdem er das Buch gefunden hatte lag es nun auf seinem Schreibtisch zu Hause. Er wusste nicht einmal, ob es sich um einen Tagebuchschreiber oder eine Tagebuchschreiberin handelte, obwohl er eine intuitive Vermutung hatte, dass es sich um eine Sie handeln könnte. Fest stand nur, dass der oder die Schreiberin Hilfe brauchte. Alles andere würde sich ergeben, irgendwie. Den Rest wollte er herausfinden indem er sich in aller Ruhe damit beschäftigte.
Und doch, je länger er das neben ihm liegende Buch betrachtete, kroch allmählich ein wirklich beschämendes Gefühl in ihm hoch. Was hatte er sich eigentlich dabei gedacht? Jetzt, wo es mehr als zu spät war, war da plötzlich eine gewaltige Portion schlechtes Gewissen, die an ihm nagte. Was war mit seiner Moral und mit dem Respekt einem fremden Menschen gegenüber? Selbst dass er nach seinem Abi zwei Semester Psychologie studiert hatte, gabihm keinen Funken Recht dazu in eine seelische Intimsphäre einzubrechen. Je länger er sich darüber einen Kopf machte, um so mehr wurde ihm klar, dass er gerade einen großen Fehler gemacht hatte. Er musste es zurückgeben. Vertraulich und ohne großes Aufsehen natürlich. Am besten dorthin legen wo er es gefunden hatte und ohne ein Wort darüber zu verlieren. Diskret versteht sich, sehr diskret. Morgen.
Nächster Tag, Mittwoch, 8. April 2015
Ein sehr kühler Aprilmorgen, es hatte sogar Nachtfrost gegeben. Peter wollte es an diesem Morgen zurück-bringen und er war jemand, der das tat, was er sich vorgenommen hatte. Er wollte das corpus delicti einfach wieder loswerden, es ungeschehen machen, zurückbringen in das Cafe. Unauffällig und dorthin, wo er es gefunden hatte und dann seinem Schicksal überlassen. Ja das war sein Plan gewesen an diesem Mittwoch. Natürlich konnte er nicht damit rechnen, dass das Cafe ausgerechnet an diesem Tag Ruhetag hatte. Und nun, was sollte er nun tun? Er wirkte hilflos und unbeholfen wie ein kleiner Junge, der ein Spielzeugauto geklaut hatte und es nun zurückbringen wollte.
Das Ganze machte ihn sichtlich nervös. Obwohl Peter im Grunde jemand war, der die Ruhe in Person ist und jemand, den nicht viel aus dieser Ruhe bringen konnte. Ein Mann, Anfang Fünfzig, sportlich, lebenserfahren und mit einem Stück harmonischer Ausgeglichenheit. Dieser aus-geglichene Mensch hatte nun ein kleines Problem in der Größe DIN A 5, schwarz mit roten horizontalen Streifen an den Außenrändern, äußerlich völlig unauffällig. Aber es war der Inhalt, von dem man das nicht behaupten konnte. Nicht das übliche Liebeskummer-Bla-bla, was sonst so häufig in individualisierte Heftchen gekritzelt wird. Das was er gefunden hatte war ein Stück Lebenstragödie, wie sich noch herausstellen sollte, das nichts mit einem Kindergeburtstag zu tun hatte. An diesem sonnigen aber kühlen Mittwoch blieb ihm allerdings nichts anderes übrig, als dieses Stück aufgeschriebenes Stück Leben wieder mit nach Hause zu nehmen. Es lag auf seinem Schreibtisch wie am Tag zuvor und starrte ihn an, zumindest empfand Peter es so. Die Versuchung war einfach zu groß. Nicht seine pure Neugier, nein es war die Botschaft, die ihn erreicht hatte und die ihn einfach nicht mehr los ließ. Es war Nachmittag geworden und er konnte das Tagebuch nicht länger neben sich liegen lassen, ohne dort weiterzulesen, wo er am Morgen aufgehört hatte. Typisch wie es für ihn war, begann er nicht mit ersten Seite und dem ersten Datum, sondern mit der letzten Seite genauso wie er auch die Tageszeitung las.
4. April
Hab geträumt, dass ich Autogramme geben soll, aber meinen Namen nicht mehr schreiben kann. Muss dran arbeiten, dass diese Ängste weggehen.
3. April
Karfreitag, wieder einer dieser Feiertage die ich so hasse
-strumming my pain with his fingers -singing my life with his words -killing me softly …
29. März
Nicht singen zu können, ist für mich wie einem Vogel das Fliegen zu Verbieten. Zumindest im Traum kann ich es noch...
Der Manager kommt zu mir und fragt mich, warum ich ein rotes Mikrophon habe. Ich zeige ihm mein rotes Kleid und das Publikum klatscht begeistert in die Hände und schreit Zugabe.
Tatsächlich, es war eine Sie, so wie Peter es vom ersten Moment an vermutet hatte, und Peter musste dabei an seinen ersten Auftritt mit seiner Schülerband denken. Zuerst das Lampenfieber, dann der Applaus, der alle Aufregung nach dem ersten Song weggefegt hatte. Die Musik hatte ihn bereits als kleiner Junge begeistert. Er hatte sich nie etwas anderes vorstellen können als Musiker zu werden. Das war für ihn so definitiv sicher, wie das Ende einer Landebahn. Das war nicht nur so ein Kleiner-Jungen-Traum . Es war seine Bestimmung, so zumindest hatte er es damals betrachtet und daran hatte sich auch bis heute nichts geändert.
27. März
Arschloch-Traum: Er ist im Gefängnis. Ich bin in seiner Zelle und er will mit mir schlafen. Ich habe ein Messer im Aktenkoffer versteckt. Er sagt, dass ich unterschreiben muss, dass er unschuldig ist.... Heute ist der Tag der Rache du Scheiß-Typ...
26. März
War heute bei Mister Anwalt. Sieht nach neuer Riesen-Scheiße aus. Hab nicht alles mitbekommen, zuviel Paragraphen-Chinesisch. Soll Mister Anwalt mit seinem Fachkollegen klären...
Warum schreibt jemand Träume auf? Manchmal brauchst du Träume und Visionen. Wenn du aufhörst zu träumen, dann hörst du auf zu leben. Peter hatte immer einen Traum, es war sein Traum. Es hat ihm die Kraft gegeben weiterzumachen, nie aufzugeben, wo ein anderer längst hinschmeißt. Gerade als Musiker bist du nur einer von vielen tausenden, die tausendmal besser sind. Aber das musst du wegdrücken, du musst an dich glauben. Als Musiker träumst du natürlich davon, einmal berühmt zu werden. Und du träumst davon Erfolg zu haben. Peters Traum war einfach Musik zu machen. Dafür lernte er wie verrückt, Piano zu spielen . Wäre da nicht dieses Klavier im Wohnzimmer der Eltern herumgestanden, vergewaltigt als Möbelstück, weil es die Vorbesitzer des Hauses als Platz-gründen nicht mitnehmen konnten, und wäre da nicht sein Schulkamerad Roland gewesen, der ihm die Grundbegriffe am Klavier beigebracht hatte. Aber sie waren da, das Klavier und Roland und Peter hatte nichts anderes zu tun, als zu üben. Und das tat er auch, wie ein Besessener.
14. März
-it`s the heart afraid of breaking, that never learns to dance -it`s a dream afraid of waking, that never takes the chance -it`s the one who won`t be taking, who cannot seem to give -and the soul afraid of dyin, that never learns to live
Ich shaffe es trotzdem nicht, es gibt eine unsichtbare Hand, die mich immer wieder in den Dreck hinunterzieht....
Auch in Peters Leben hatte es natürlich viele dieser Phasen gegeben, an denen er sich an eine Hoffnung klammern musste. Seine Laufbahn im Musikgeschäft war nicht nur Sonnenschein. Es war auch seine Existenz, die immer wieder mal auf der Kippe stand und er kannte den bitteren Geschmack der Niederlage. Und doch hatte er sein Ziel unbeirrbar verfolgt und sich davon leiten lassen, dass nach einem Tief zwangsläufig auch immer wieder ein Hoch kommt.
12. März
wann hören diese Träume auf?
9. März
…..soll ich dieses Arschloch erschießen lassen, damit diese Träume endlich aufhören?
8. März
Mir ist nicht gut. Diese scheiß Einsamkeit frisst sich wie ein gefräßiger Parasit in mich hinein genauso wie diese scheiß Träume von ihm...
Peter las langsam, er wollte verstehen, was da alles passiert war. Diese Vermischung von Erzählungen und Träumen und dann wieder Textzeilen konnte er nicht deuten. War da überhaupt ein Hauch von Wirklichkeit, oder alles nur ge-träumt, Fiktion, Phantasie oder eine Junkiestory, ge-schrieben im Delirium? Alles war denkbar. Peter holte sich einen Cognac. Seine Gedanken waren auf einmal weit weit weg in seiner eigenen Jugend, der eigenen Sturm- und Drangzeit und alles was dazugehörte. Peter legte das Buch zur Seite und entschied sich dafür, sich vom TV-Programm berieseln zu lassen.
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