Ihr war es dafür aufgefallen, dass gerade heute etwas anders war als sonst. Nicht, dass Peter in den letzten Monaten nur mehr selten und unregelmäßig ins Cafe gekommen war. Nicht, dass er einige Wochen gar nicht hier war. Nein, ihr fiel auf, dass er heute weder eine Zeitung las noch eine Zeitschrift. Er saß einfach da, nippte an seinem Glas Chardonnay und schien mit seinen Gedanken so weit weg zu sein wie der Mond von der Erde. Welche Gedanken waren es, die ihn so beschäftigten?
Peters Gedanken waren tatsächlich weit vom heute und vom Jetzt entfernt. Zu sehr sah er sich an diesem für die Jahreszeit zu milden Vormittag zurückversetzt an den nach trügerischer Harmlosigkeit schmeckenden Dienstag im April vor sieben Monaten, wo das alles seinen Anfang nahm. Genau hier in diesem Cafe, an diesem Tisch und an diesem Platz. Diese verrückte Geschichte, die fast zu verrückt ist, um wahr sein zu können. So verrückt, dass essein Leben in diesen wenigen Monaten verändert hatte.
Aber bekanntlich schreibt gerade das Leben die verrücktesten Geschichten. So saß er da, wie in Trance, gedanklich abgeschnitten von der Außenwelt. Nur diesen Kultsong nahm er wahr, der gerade auf Bayern 1 gespielt wurde. Derselbe Song von John Lennon , den er auch an diesem Dienstag im April vor sieben Monaten gehört hatte.
Imagine, there`s no heaven it`s easy if you try no hell below us, above us only sky imagine all the people, living for today
you may say I`m a dreamer but I`m not the only one I hope someday you`ll join us and the world will be as one
-JOHN LENNON 1971-
Stell dir vor, du findest ein Tagebuch. Es liegt geöffnet neben dir. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen und du bist völlig unbeobachtet. Was würdest du tun? Würdest du es ignorieren und einfach unbeachtet liegenlassen? Würdest du fragen, wem es gehört und dich nach dem Eigentümer umsehen? Würdest du es der Bedienung geben in dem Cafe, wo du es gerade gefunden hast und von der du genau so wenig weißt wer sie ist? Oder würdest du einen kleinen, dafür aber heimlichen Blick auf ein oder zwei Zeilen werfen? Würdest du einen verstohlenen zweiten Blick riskieren? Und dann? Was würdest du dann tun?
… the answer my friend is blowin in the wind…
Dienstag, 7.April 2015
Sieben Monate vorher. Wie üblich, saß Peter an diesem Dienstag in seinem Cafe an seinem Platz. In der Zeitung las er von neuen Selbstmord-Hintergründen des Germanwings -Piloten zu dem spektakulären Flugzeugunglück vom 24. März, bei dem der Pilot das Flugzeug absichtlich in den französischen Alpen zum Absturz brachte. Erst als er die Zeitung beiseitelegte bemerkte er das Tagebuch, das neben ihm auf der Bank lag. Auf den ersten Blick sah es völlig unverfänglich aus. Peter hatte nicht einmal Ahnung, dass es sich um ein Tagebuch handelte. Es war aufgeschlagen. Fast so, als ob es sagen wollte „hey sieh mich an“. Peter tat es, ohne sich Gedanken zu machen. Es war ein einziger Satz der ihn in seinen Bann zog. Kein Satz im klassischen Sinn, sondern diese Textzeile, geschrieben an diesem Tag, genauer gesagt an diesem Morgen:
-when you`re down in troubles, and you need some love and care -and nothings, nothings goin right -close your eyes and think of me...
Peter konnte den Text in Gedanken weitersprechen ohne es lesen zu müssen. Zu gut kannte er den Song von Carole King , zu oft hatte er diesen früher gehört. Und doch war es kein Textbuch. In der nächsten Zeile hatte jemand aufgeschrieben:
Wenn ich einen einzigen Wunsch hätte, dann würde ich mir meine Stimme zurück wünschen.
Das war alles, was auf dieser aufgeschlagenen Seite stand. Aber für Peter ausreichend genug, um etwas in ihm zu wecken. Dieser Song erinnerte ihn an etwas von früher, was ihn bewegte ohne sich erinnern zu können, was es war. Nicht jetzt in diesem Moment. Vermutlich war es zu lange her und zu weit weg.
Bis zu diesem Augenblick hatte er nichts Verbotenes getan. Er hatte das Buch nicht berührt und nicht geblättert. Nur das gelesen, was offen zu lesen war. Dabei kam ihm spontan die schrille Idee, dass das so ein Ding mit einer versteckten Kamera sein könnte. Er hatte keine Ahnung. Seine Emotion war es nun, die ihm das Nachdenken abnahm und einfach eine Seite zurückblätterte ohne den Verstand zu fragen und die nächsten Zeilen in diesem Buch zu lesen.
6. April.15
...die Musik ist mein Blut, solange ein Funken Leben in mir ist. Nur die Musik hat mir in meinem Scheißleben geholfen, den ganzen Mist zu ertragen. Ohne Musik wäre ich längst vor die Hunde gegangen
War das eine Botschaft oder war das Zufall? Warum musste ausgerechnet er so etwas finden? Er, dessen Welt und dessen Leben von A bis Z aus Musik bestand.
-it`s a heartache, nothing but a heartache -hits you when when it`s too late -hits you when you`re down.
Natürlich erkannte Peter auch diesen Nummer-Eins-Hit von Bonnie Tyler an den beiden Textzeilen auf Anhieb. Die Emotion zwang Peter auch die nächsten Zeilen zu lesen.
5. April.15
...brauche Musik, sie ist mein Sauerstoff, den ich atme. Ein Leben ohne Musik ist kein Leben...
Wenn du einmal diesem Reiz erlegen bist, mit einer guten Band auf einer dieser großen Bühnen zu stehen und dein musikalisches Ich aus dir herauskommt, Besitz von dir ergreift, und dieser Funken auf das Publikum vor dir überspringt, die jedes Wort deines Textes mitsingt und im Beat mitgeht, dann ist es dieses Feeling, das Rainhard Fendrich in einem seiner Lieder so treffend beschrieben hat. Spätestens jetzt war es für Peter klar, dass dieser Mensch seine Hilfe in Sachen Musik brauchte. Und es war klar, dass er es war, der diesem Jemand mehr helfen konnte als jeder andere. An dieser Stelle wurde ihm aber auch bewusst, dass er gerade in das Privatleben eines fremden Menschen eingedrungen war. Gleichzeitig durchfuhr es ihn, dass die Person, der das Tagebuch gehörte, jeden Moment zurückkommen könnte um es zu suchen. Das war sogar ziemlich wahrscheinlich, vielleicht aber auch die Riesen-chance ins Gespräch zu kommen. Peter war unruhig und angespannt. Er konnte sich auf nichts anderes mehr konzentrieren, als ständig den Eingang zu beobachten und rechnete damit, dass jeden Moment die Tür aufgeht und dieser Tagebuch-Jemand nach seinem vergessenen Buch sucht.
Es war sehr ruhig an diesem Dienstag. Peter und zwei Omis waren die einzigen Gäste an diesem Vormittag gegen Neun. Er wartete ab, doch außer zwei asiatischen Studentinnen, die sich scheinbar etwas Süßes to go einpacken ließen, tat sich nichts Neues. Peter spekulierte fieberhaft nach einem Plan B. Einfach liegenlassen? Würde bedeuten, dass er dieser Person nicht helfen könnte. Bei der Bedienung abgeben? Würde bedeuten, einer wildfremden Person das Geheimnis eines ebenso wildfremden Menschen anzuvertrauen und auch nicht helfen zu können. Wenn er also helfen wollte, dann gab es nach seiner Einschätzung nur eine einzige Antwort, was zu tun war. Inzwischen waren mehr als zwei Stunden Ewigkeit vergangen. Das Tagebuch wurde scheinbar noch nicht vermisst und auch nicht abgeholt. Eigenartigerweise hatte er während der letzten beiden Stunden das Radioprogramm, das im Hintergrund lief, nicht wahrgenommen. Ausgerechnet jetzt drang John Lennons „Imagine“ in sein Ohr, so als ob es ein Zeichen wäre „stell dir vor...“ Für sein emotionales Ego war es das unmissverständliche Kommando, „nimm das Buch und mach dich vom Acker.“ Manchmal tust du einfach etwas, weil es der Zufall so will und du fragst dich nicht, ob das richtig oder falsch ist. Und das war genau eine dieser unkontrollierten Situationen.
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