»Ok. Wann soll ich morgen hier sein?«
»Egal wann du kommst, ich werde da sein.«
»Egal wann?«
»Ich sagte doch, egal wann, ich bin hier.«
Ben stieg ein, wendete das Auto und fuhr los. Ich schaute ihm nach, bis ich den Wagen nicht mehr sah. Schließlich stieg ich aufs Rad und fuhr los. Es war wirklich nicht mehr weit. Hinter dem Hügel war unser Haus. Meine Mutter stand draußen und sah die Straße hinauf. Als ich sie sah, befürchtete ich, dass sie den Wagen gehört haben könnte.
»Hallo Mom!«
»Sarah, wo bist du gewesen? Ich habe mir schon Sorgen gemacht! Du hast doch gesagt, dass du um 5 Uhr zu Hause sein wirst. Du bist eine halbe Stunde zu spät. Ich wollte gerade Jane anrufen.«
»Tut mir leid, dass ich zu spät komme, Mom.«
»Du weißt doch, dass ich nicht möchte, dass du mit dem Rad noch unterwegs bist, wenn es dunkel wird.«
»Ja, Mom. Ich hätte dich angerufen, wenn ich es nicht mehr geschafft hätte.«
»Nun gut. Mir kam es vor, als hätte ich ein Auto gehört. Hast du vielleicht eins gesehen?«
»Ja, der Fahrer hat sich verfahren und ich hab ihm den Weg erklärt. Er ist zurückgefahren, als er hörte, dass hier die Straße endet.«
»Gut, gehen wir rein. Das Abendessen steht schon auf dem Tisch, wir können gleich essen.«
Ich hatte eigentlich keinen Hunger, doch das konnte ich meiner Mutter nicht sagen, sie hätte nur Fragen gestellt. Also setzte ich mich und fing an zu essen. Da ich keinen Appetit hatte, schob ich mit der Gabel das Essen auf meinem Teller hin und her.
»Sarah, was ist los? Du isst ja gar nichts. Bedrückt dich etwas?«
»Nein, Mom, ich habe keinen Hunger und ich bin ein wenig erschöpft, das ist alles.«
»Ok, Schatz, leg dich ein wenig hin. Ich räume alles auf.«
»Danke, Mom.«
Ich ging in mein Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Ich überlegte, ob ich Jane für morgen auch absagen sollte, denn für mich war es wichtiger, mich mit Ben zu treffen und mehr über meinen Vater zu erfahren. Doch dann fiel mir ein, was Ben gesagt hatte. Keiner darf Verdacht schöpfen und ich wusste auch nicht, was ich Jane sagen sollte.
Ich konnte nicht wieder behaupten, dass es Mom nicht gut ging, sie würde herkommen und nach ihr sehen wollen. Sie mochte meine Mom sehr. Außerdem wollte ich sie nicht wieder anlügen.
Ich musste mich wohl oder übel zusammenreißen, bis ich alles über meinen Vater erfahren hatte, ohne dass jemand von Ben erfuhr. Das Einzige, was ich tun konnte, war, dass ich die Verabredung ein wenig verschob, um mit Ben mehr Zeit verbringen zu können. Also nahm ich das Telefon und rief Jane an.
»Hallo?«
»Hallo Jane, wie geht es dir? Tut mir noch mal leid wegen heute, dass ich so plötzlich absagen musste.«
»Ist schon okay, Sarah. Geht es deiner Mutter besser?«
»Ah ja, sie hat sich nur den Magen verdorben. Es geht ihr schon besser.«
»Dann können wir uns ja morgen treffen!“
»Ja, wie wäre es um 11.00 Uhr? Ist dir das recht?«
»Ist das nicht ein bisschen zu spät? Wir können uns doch schon um 10.00 Uhr treffen.«
»Du hast ja leicht reden, ich muss noch den ganzen Weg in die Stadt radeln. Das hieße, noch eine Stunde früher aufzustehen und das in den Ferien.«
»Du hast ja recht. 11.00 Uhr ist auch gut. Hast du dir schon überlegt, was wir morgen machen wollen?«
»Nein, ich überlasse es dir. Zur Wiedergutmachung für heute, weil ich dich versetzt habe. Wir machen einfach das, worauf du Lust hast.«
»Also gut! Ich überlege mir was. Lass dich überraschen, wir werden morgen viel Spaß haben!«
»Gut, bis morgen.«
»Ok, bis dann. Sag deiner Mutter gute Besserung von mir.«
»Mach ich.«
Kaum hatte ich aufgelegt, klopfte es an der Tür.
»Ja?«
»Schatz, darf ich reinkommen?«
»Natürlich, Mom!«
Sie setzte sich zu mir aufs Bett und schaute mich traurig an.
»Ich weiß, dass du erschöpft bist, aber ich möchte dir das geben. Hier Schatz, dein Geburtstagsgeschenk.«
»Ich habe doch erst in zwei Wochen Geburtstag!?«
»Ich weiß, Schatz.«
Sie reichte mir ein Päckchen, das sehr schön eingepackt war.
»Nun mach schon auf.«
Ich muss zugeben, ich war ein bisschen aufgeregt, denn ich hatte nicht mit einem Geschenk gerechnet, da ich wusste, dass Mom im Moment knapp bei Kasse war. Ich wickelte das Päckchen aus und öffnete es.
»Mom, das ist doch die Kette, die dir Papa geschenkt hat. Das kann ich nicht annehmen!«
»Ich weiß, dass dir die Kette immer gefallen hat, Schatz. Sie gehört dir. Sie hat immer dir gehört, denn dein Vater gab sie mir, um sie für dich aufzubewahren. Ich musste ihm versprechen, dass ich sie dir genau heute gebe, zwei Wochen vor deinem Geburtstag. Er hat mir nie gesagt warum, aber für ihn war es sehr wichtig, dass du sie heute erhältst.«
Ich musste mich zusammenreißen, um nicht zu weinen. Erst hörte ich heute, dass mein Vater nicht bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam und jetzt bekomme ich zum Geburtstag von meinem Vater ein Geschenk.
»Schatz, ich lasse dich mal alleine.«
Ich war mit meinen Gedanken woanders. Ich hatte nur gehört, dass die Tür ins Schloss fiel. Die Kette sah irgendwie anders aus, als ich sie in Erinnerung hatte. Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein.
Auf einmal schrak ich auf. Ich ließ die Kette auf das Bett fallen und trat einen Schritt zurück. Hatte sich das Symbol des Anhängers verändert? Es sah doch eben noch anders aus.
Ich nahm die Kette vorsichtig in die Hand und schaute sie mir genauer an. Sie hatte die Form eines Vogels. Zwar konnte ich nicht genau erkennen, was das für ein Vogel war, doch er war deutlich zu sehen.
Ich ging zum Spiegel, legte mir die Kette um den Hals und betrachtete mich. Sie war wunderschön. Mir kam plötzlich in den Sinn, dass ich mich bei meiner Mom noch nicht bedankt hatte. Ich nahm die Kette ab, denn wie hätte ich ihr erklären können, dass es dieselbe Kette ist, die sie mir geschenkt hatte? Ich verstaute sie vorsichtig im Kästchen und ging hinunter. Meine Mutter stand an der Spüle und wusch das Geschirr. Sie bemerkte nicht, dass ich hinter ihr stand.
»Mom?«
»Schatz, du hast mich erschreckt.«
»Tut mir leid, Mom. Ich wollte mich für das wunderschöne Geschenk bedanken und dir sagen, dass ich dich lieb habe.«
»Es freut mich, dass dir die Kette gefällt, Schatz. Das Geschenk ist aber von deinem Vater.«
»Nein Mom, es ist von euch beiden. Schließlich hast du es all die Jahre für mich aufbewahrt.«
»Hast du Lust auf eine Nachspeise? Du hast nichts zum Abendbrot gegessen.«
»Ok, was gibt es zum Nachtisch?«
»Eine kleine Torte.«
Sie gab mir ein Stück, fast schon übertrieben groß, aber ich sagte nichts.
»Danke, Mom.«
Als ich die Hälfte geschafft hatte, konnte ich nicht mehr.
»Mom, ich bin voll. Ich kann nicht mehr.«
»Ist schon gut, Schatz. Du musst nicht alles essen. Willst du vielleicht noch mit mir Fernsehen?«
»Ich würde liebend gern, Mom, aber ich treffe mich morgen mit Jane. Vielleicht morgen Abend. Jetzt geh ich lieber ins Bett, denn es fällt mir schwer die Augen offen zu halten. Gute Nacht, Mom.«
»Gute Nacht, Schatz.«
Ich ging in mein Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Draußen war es dunkel geworden, dennoch schaltete ich das Licht nicht ein. Ich wollte ein wenig im Dunkeln bleiben und den Tag Revue passieren lassen, also ließ ich mich aufs Bett fallen.
Auf einmal spürte ich etwas Hartes unter mir. Es tat weh. Ich musste wohl das Päckchen von der Kette auf dem Bett vergessen haben. Ich setzte mich auf und nahm es in die Hand. Was ist das? Es ist ja noch eingepackt?
Nun schaltete ich doch das Licht ein und sah, dass es nicht das Päckchen von meiner Mom war. Wie ist es nur hier hergekommen? Ich schaute zum Fenster. Es stand offen. Kann es sein, dass jemand dadurch gestiegen war?
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