Er hatte volle, schneeweiße Haare. Falten hatte er noch keine, was, sonderlich war, wenn man bedenkt, dass die Haare schon so weiß waren. Sein Gesicht zeigte keine Emotionen. Ich konnte nicht erkennen, ob ich ihm vertrauen oder die Beine in die Hand nehmen und weglaufen sollte. Angst machte er mir nicht, nur unheimlich war es mir schon, weil er die Tür öffnete, obwohl ich nicht geläutet hatte. Er war korrekt gekleidet, trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und schwarze Schuhe. Alles passte zusammen, es sah einfach perfekt aus. Er sah recht gut aus für sein Alter, obwohl ich natürlich nicht einschätzen konnte, wie alt er war.
»Guten Tag, Miss Clarus.«
Ich sagte nichts. Es kam einfach kein Wort über meine Lippen.
»Kommen Sie bitte herein, Miss Clarus, Sie werden bereits erwartet.«
Wie? Wer erwartet mich? Woher kennen sie meinen Namen? Woher konnten sie wissen, dass ich komme? Mit einem Mal merkte ich, dass ich dieses Gespräch nur in meinem Kopf führte. Noch immer kam kein Ton aus meinem Mund heraus – meine Stimme versagte.
»Bitte, treten Sie ein.«
Ich folgte dem älteren Herrn, ohne zu zögern. Wir kamen in einen riesigen Eingangsraum, fast so groß wie das Haus, in dem ich wohnte. Es war ein sehr eindrucksvoller Raum. Die Wände hingen voller Porträts. Die Personen darauf trugen Kleidung, die ich aus den Geschichtsbüchern kannte. Das müssen Familienmitglieder sein, dachte ich.
»Warten Sie bitte hier, ich sage dem Herrn Bescheid, dass Sie da sind.«
Er verschwand hinter einer der vielen Türen. In der Mitte des Flures war eine Treppe, die hinaufführte. Was dort wohl ist?
Dann fiel mir eine Tür mit zwei Flügeln auf. Was mag hinter der Tür sein? Ich war neugierig und wollte nur hineinschauen, bevor der ältere Herr wiederkam. Also ging ich langsam auf die Tür zu und klopfte leise. Es antwortete niemand. Gut so, dachte ich. Ich öffnete die Tür vorsichtig und streckte meinen Kopf hinein.
»Hallo? Ist da jemand?«
Es kam keine Antwort und ich trat einfach ein. Die Regale an den Wänden waren voller Bücher. In der Mitte des Raumes stand ein Schreibtisch, der wirklich riesig war. Rechts war ein Kamin, auf dem ein Porträt von einer Frau stand, die bildhübsch war. Wer sie wohl ist?
Mir fiel auf, dass die Kette um ihren Hals fast so aussah, wie die meiner Mutter, die sie allerdings nie trug. Ich verweilte einen langen Augenblick vor dem Porträt und schrak auf, als die Tür aufging.
»Bitte folgen Sie mir, Miss Clarus.«
Als ich den älteren Herrn ansah, fühlte ich, dass mein Gesicht ganz heiß wurde. Was er wohl von mir dachte? Bestimmt nichts Gutes denn ich sollte im Flur warten und nicht hier sein ohne Aufforderung. Ich antwortete nicht und folgte ihm einfach. Doch statt den Raum so zu verlassen, wie wir hereingekommen waren, ging er an mir vorbei, öffnete die Terrassentür und ging hinaus. Ich folgte ihm mit leicht gesenktem Kopf nach. Als wir im Garten waren, sah ich dort einen jungen Mann sitzen, der eine Zeitung las und sich nicht rührte.
»Mr. Albus, Miss Clarus.«
Der Mann legte die Zeitung zur Seite und erhob sich.
»Miss Clarus, schön Sie endlich persönlich kennenzulernen!«
»Guten Tag, Mr. Albus.«
»Nur Ben, bitte. Darf ich Sie Sarah nennen?«
»Hm ... Ja«
»Bitte, setz dich doch.«
Ich setzte mich und konnte meine Augen nicht von ihm lassen. Er hatte etwas an sich, dass mich in den Bann zog, ich aber nicht beschreiben konnte.
»Woher kennen Sie meinen Namen?«
»Sarah, ich werde es dir erzählen, aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Nun, erst mal zu deiner Frage. Ich kenne dich bereits seit 15 Jahren und weiß alles über dich und deine Familie.«
»Meine Familie?«
»Ja. Ich kannte auch deinen Vater.«
Ich war wie erstarrt.
»Sarah geht es dir gut? Trink einen Schluck Wasser?«
Er schenkte mir ein Glas Wasser ein und reichte es mir. Ich nahm es, trank und stellte es auf den Tisch ab.
»Aber woher kannten Sie meinen Vater?«
»Du warst zu klein, um dich an mich zu erinnern. Ich selbst war noch ein Kind und sehr oft in eurem Haus. Dein Vater hat mich viel gelehrt.«
»Erzählen Sie mir mehr über ihn! Wie war er so?«
»Er war ein großartiger Mensch. Ich habe immer zu ihm aufgesehen. Wenn man in seiner Nähe war, hatte man immer das Gefühl gehabt, es könne einem nichts passieren. Er war groß, gut gebaut und sehr gebildet. Es gibt viel mehr über ihn zu erzählen, aber ich muss dich erst darauf vorbereiten. Es ist nicht einfach für mich, denn viel Zeit haben wir nicht.«
»Was meinen Sie damit? Reisen Sie denn bald ab?«
»Nein, aber ich muss mich trotzdem beeilen. Später erkläre ich es dir. Am besten erzähle ich dir erst mal was über dieses Haus, bevor wir weiter von deinem Vater reden.«
Ich war schon immer besessen von der Villa und der Geschichte, die dahinter steckte. Endlich hatte ich jemanden, der sie mir aus erster Hand erzählen konnte. Statt jedoch froh darüber zu sein, war ich irgendwie traurig, da ich lieber mehr über meinen Vater erfahren hätte und auf später vertröstet wurde.
»Gehen wir rein.«
Wir gingen nicht zur Terrassentür, sondern nahmen dieses Mal einen anderen Eingang, der weiter rechts lag. Die Tür war relativ klein, unscheinbar und alt. Es war wohl die Tür, die zum Keller führte. Er öffnete sie und ging hindurch. In mir machte sich ein mulmiges Gefühl breit. Trotzdem folgte ich ihm. Als wir unten ankamen, war da nichts, außer einem leeren Raum. Ich schaute mich um und fragte mich, was wir wohl hier wollten. Doch bevor ich etwas fragen konnte, nahm Ben die Kette, die er um seinen Hals trug und richtete sie auf die Wand. Langsam fielen viele kleine Steinbrocken von der Wand auf den Boden. Ein Symbol, das ich nicht erkennen konnte, wölbte sich aus dem Mauerwerk hervor.
Er ging an diese Stelle und legte den Anhänger, der an der Kette hing, auf das Symbol. Es passte genau. Er drehte den Anhänger leicht nach rechts und ging einen Schritt zurück. Plötzlich bewegte sich die Wand und brachte eine eiserne Tür zum Vorschein.
Er streckte die Hand aus und legte seine Handfläche auf eine tiefer gesetzte Stelle am eisernen Türrahmen und drückte sie leicht hinein, woraufhin sich langsam die Tür öffnete.
Als diese endlich offen stand, konnte ich nichts erkennen. Der Raum war stockdunkel. Anscheinend waren dort keine Fenster. Ich zögerte und wusste nicht, was ich machen sollte. Ich konnte mich nicht von der Stelle rühren. Ben trat ein und schaltet das Licht an.
»Komm nur rein, ich tue dir nichts. Ich möchte dir nur etwas zeigen.«
Schließlich trat ich ein. Das Erste, was ich sah, war ein Porträt von einem gutaussehenden Mann. Aus irgendeinem Grund war mir das Gesicht vertraut. In dem Raum waren auch sehr alte Artefakte und Waffen, die üblicherweise in Museen zu finden sind. Einig davon waren in Vitrinen aufbewahrt und andere hingen an den Wänden. Diese hier waren so gut erhalten, dass ich dachte, sie seien nachgebaut worden. Viel mehr war nicht im Raum.
»Sarah, das ist Cyrus. Er hat die Villa bauen lassen vor über 500 Jahren.«
»Das Haus ist über 500 Jahre alt? Wie ist das nur möglich? Es sieht gar nicht so alt aus.«
»Nun alle 50 Jahre wurde das Haus komplett saniert und der Zeit angepasst, damit man nicht auf Anhieb sieht, dass es so alt ist. Da das Grundstück weit abseits liegt und niemand hier vorbeifährt, ist es auch niemandem aufgefallen.«
»Was ist mit dem Herrn des Hauses geschehen?«
»Das kommt später. Zuerst muss ich dir alles andere erzählen. Dazu müssen wir wieder hochgehen.«
Wir nahmen eine Treppe nach oben. Als er die Tür öffnete, standen wir wieder im Eingangsbereich der Villa. Wir blieben vor einem Frauenporträt stehen.
»Das ist Terra, die Schwester des Herrn.«
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