„Moin“, gähnte er. „Irgendwas Interessantes?“
„Nee“, kam es sofort von Angelo. „Wird Zeit, dass wir weiterziehen. Der Regen hat aufgehört.“
„Finde ich auch. Die Nächte werden immer kälter … Da wir gerade in der Nähe der Hauptstadt sind, sollten wir langsam diese Richtung einschlagen. Ich fürchte, der erste richtig harte Sturm wird bald aufziehen.“
Auch wenn mir klar gewesen war, dass es so kommen würde, rieselte mir diese Aussicht wie kaltes Wasser den Rücken herunter. Mein Vater sah mich forschend an. Da er wusste, was damals passiert war, konnte er wohl das in mir herrschende Durcheinander erahnen. „Ich wecke die anderen“, seufzte ich schnell und stand auf.
„Mach das! Je schneller wir loskommen, desto besser.“
Insgesamt besaßen wir sechs Zelte und den Unterstand für die Vorräte. Meins war mit Abstand das Kleinste, aber dafür hatte ich es für mich allein. Auf die anderen fünf teilte sich der Rest unseres Clans auf: mein Vater, meine Großmutter, die ehemaligen Nachbarn meiner Eltern, mein fünfjähriger Cousin Luca mit Eltern und die Leóns, eine Familie aus der Hauptstadt. Naja, eigentlich hatte Deutschland seit dem schwarzen Jahr keine offizielle Hauptstadt mehr, aber die Ruinen waren noch da und als Orientierungspunkt nannten sie alle weiterhin so.
Nachdem ich den Gong geläutet hatte, welcher als Signalton und Weckruf diente, beschloss ich, einfach nachzugucken. Es war eh egal. Hier im Nirgendwo konnte man sich relativ sicher sein, morgens wieder aufzuwachen, solange man nicht verhungerte. In der Hauptstadt dagegen würde es anders sein. Clans lebten von einem Tag zum anderen. Nie wusste man, ob man die Augen am nächsten Morgen wieder öffnen würde, denn die Gangs herrschten. Ganz einfach. Jetzt musste ich wissen, was wir zu bieten hatten.
So gut wie nichts, wie ich kurz darauf feststellen musste. Ein paar Wurzeln hatten wir, es war noch niemand hungrig genug gewesen, die zähen Teile zu essen. Auch unser materieller Besitz neigte sich dem Ende zu – kein Flickzeug, nur ein paar Signalraketen, Töpfe und Kleinkram. Als mir die Tragweite dieser Entdeckung bewusst wurde, durchfuhr mich ein eisiger Blitz. Schwankend hielt ich mich an einem Pfosten des kleinen Unterstandes fest. Klar, jede Person hatte noch ihre Waffen und persönliche Besitztümer, aber was war das schon?
Maja riss mich aus meinem Schockzustand, indem sie meine Hand abschleckte. Schwanzwedelnd lief sie auf den Behälter mit den Wurzeln zu. Auffordernd schaute sie mich an. Klar, sie hatte auch Hunger. Ich musste trotz allem grinsen. „Da hat garantiert keiner was dagegen.“
Während ich ihr beim Fressen zusah, musste ich daran denken, wie wir ihr und Angelo vor fünf Jahren begegnet waren. Damals hatte ich in einer Art Sinneskrise gesteckt. Die Hündin hatte eine Verletzung an der Pfote gehabt, ich pflegte sie zusammen mit Angelo gesund. Die Verbundenheit mit dem leidenden Tier hatte mir komischerweise geholfen, einen Teil meiner eigenen Probleme abzuschütteln. Seitdem waren Maja und ich unzertrennlich. In den letzten Jahren hatte sich die quirlige Hündin als sehr zäh erwiesen und war jetzt eine treue Begleiterin ihres „Rudels“. Zwar fraß sie uns auch noch die letzten Haare vom Kopf, aber sie hatte sich in unsere Herzen geschlichen. Außerdem waren ihre Qualitäten als Wachhund unersetzbar.
Mit einem Blick nach draußen stellte ich fest, dass mittlerweile alle wach waren und sich um die Feuerstelle sammelten. Schnell stand ich auf, um mich zu ihnen zu gesellen.
Kurz darauf dauerte es nicht lange, bis ich meine wenigen Habseligkeiten zusammengepackt und sie in einen zerschlissenen Rucksack aus Stoffresten gesteckt hatte. Dann rollte ich mit geübten Handgriffen mein Zelt so klein wie möglich ein und band es mit den Schnüren zusammen. Niemand hatte widersprochen, als mein Vater dem Clan eben eröffnet hatte, dass wir in die Stadt ziehen würden. Die anderen hatten es wohl geahnt.
Nachdem alle fertig waren, schnallte ich mir mein Gepäck auf den Rücken. Obwohl es nicht besonders schwer war, würde es mich beim Laufen wahrscheinlich das letzte bisschen Kraft kosten. Wenn wir unterwegs nichts zu essen finden würden, standen die Chancen schlecht, überhaupt in der Hauptstadt anzukommen. Chancen. Warum dachte ich über Chancen nach? Die Vergangenheit hatte schließlich gezeigt, dass man nicht in Prozenten denken sollte. Die Leute, die vor einhundert Jahren gelebt hatten, hätten wahrscheinlich auch nicht gedacht, dass eine Art Apokalypse innerhalb des nächsten Jahrhunderts eintreten und das gesamte Staatensystem zusammenbrechen würde. Seufzend beobachtete ich meinen Cousin, der als Einziger nichts zu tragen haben würde. Eher würden wir später ihn tragen müssen.
Dann ging es los. Wir wanderten den ganzen Vormittag. Ich lief am Ende der Gruppe, da ich keine Lust hatte, mich mit irgendwem zu unterhalten. Langweilig war mir nicht, denn ich hatte genug damit zu tun, nicht schlappzumachen. Der Hunger tat weh, bohrte mir ein riesiges Loch in den Bauch. Geregnet hatte es in der letzten Zeit genug, also war zumindest unser Trinkwasservorrat fast voll. Regenwasser war überhaupt die einzige Flüssigkeit, die man noch einigermaßen gefahrlos zu sich nehmen konnte. Bäche und Tümpel hatten bräunliche bis rot-grünliche Farben und stanken wie die Pest.
Irgendwann konnte ich nur noch ans Ausruhen denken. Pause, was für ein schönes Wort! Außerdem kamen wir immer langsamer voran. Auch die restlichen Clanmitglieder kämpften jetzt mit sich, schleppten sich regelrecht weiter. Es musste bereits gegen Mittag sein, doch wenn wir jetzt anhielten, würden wir womöglich für immer sitzenbleiben. Ich ahnte, worauf mein Vater hoffte und der Gedanke ließ mich immer weiter geradeaus stolpern. Schließlich war es Mikes Aufgabe, uns durchzubringen. Oft fragte ich mich, warum er so standhaft ums Überleben kämpfte. Ob er auch ohne seine Tochter weitermachen würde?
Zusammen mit Angelo schleppte Mike an der Spitze bereits die Trage mit Luca. Lange hatte er nicht durchgehalten, der Arme. Ich hatte keine Ahnung, woher die beiden Männer die Energie nahmen, aber sie schafften es irgendwie. Leise unterhielten sie sich, doch ich verstand sie nicht. Schließlich hielten sie an. Erleichterung auf allen Gesichtern.
„Seht ihr da vorne den Anfang des Waldes?“, fragte mein Vater. Wirklich! Ich hatte die Bäume am Horizont vor Erschöpfung ganz übersehen. „Wenn wir es bis dorthin schaffen, finden wir vielleicht etwas zu essen. Und natürlich machen wir Pause“, fuhr er fort. Nickende Köpfe, das sahen sie ein.
Dann ging es weiter. Es wurde eine sehr anstrengende Zeit. Wir mussten aussehen wie Zombies, während wir durch die Ebene schwankten. Meine Muskeln brannten, die Kopfschmerzen von heute Morgen waren wieder da. Nur Maja lief frisch neben uns her, ab und zu verschwand sie schnuppernd im Gestrüpp. Die Wurzeln schienen ihren Magen gut gefüllt zu haben, aber vermutlich hoffte sie auch auf eine Maus, die sich eventuell zwischen ihre Pfoten verirrte.
Mein Magen war leer, und mein Mund fühlte sich an wie Schmirgelpapier. Das Atmen fiel mir auch schwerer, die Luft schien dicker und staubiger zu werden. Kurz hielt ich an und nahm einen tiefen Zug aus meiner Flasche. Sie war aus zerknittertem Plastik, von der ursprünglichen Beschriftung war nur noch volv lesbar. Es fühlte sich gut an, das kalte Wasser die Kehle herunterfließen zu spüren. Danach bekam ich wieder ein bisschen besser Luft.
Schließlich waren es noch etwa zwei Kilometer. Immer weiter, rief ich mir ins Gedächtnis. Einen Fuß vor den anderen setzen, gar nicht so schwer. Wahrscheinlich würde ich irgendwann einfach zusammenbrechen. Herzinfarkt oder so, ein schneller Tod. Verlockend …
Aber mit einem Mal wollte ich nicht. Es war wie in meinem Traum. Auch wenn ich sonst keine große Lust zum Leben hatte (es lohnte sich schließlich nicht sonderlich), erwachte plötzlich mein Kampfgeist. Verdammt nochmal, ich konnte doch nichts dafür, dass es der Welt so schlecht ging. Ich hatte das gute Recht, wie meine Vorfahren in Frieden, Freiheit und Sorglosigkeit zu leben. Deshalb sah ich es einfach nicht ein, hier so würdelos umzufallen. Auch wenn es in der Zukunft nicht besser werden konnte, würde ich meinem so unfairen Schicksal nicht einfach seinen Willen geben. Und nach einer weiteren halben Stunde traten wir endlich zwischen die Bäume.
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