„Nach Hause“, antwortete Klaas leise, ohne seine Schritte zu verlangsamen. Doch als er den Jungen passieren wollte, hielt ihn dieser an der Schulter fest.
„Hab ich Dir erlaubt, weiter zu gehen?“
„Ich habe Euch nichts getan. Also lass mich gehen!“ Klaas zitterte mittlerweile vor Angst. Und diese wuchs noch, als die anderen sie schließlich erreichten.
„Tarik, schau mal, wer mir da gerade in die Arme gelaufen ist!“ Einige Jungen lachten.
Der Junge mit der platten Nase baute sich vor Klaas auf und musterte ihn finster.
„Ey, weißt Du, was Zoll ist?“, fragte der Junge namens Tarik mit einem schweren Akzent. Klaas nickte.
„Dann wollen wir jetzt Fünf Mark von Dir.“
„Aber Zoll bezahlt man doch nur an einer Landesgrenze“, korrigierte ihn Klaas und bedauerte sofort seine unbedachte Äußerung. Tarik ging einen weiteren Schritt auf ihn zu und stemmte demonstrativ seine Hände in die Hüfte.
„Das hier IST eine Grenze, Du Scheiß“, zischte ihn Tarik an, „entweder bezahlst Du Zoll oder wir saufen Dich im Fluss ab.“
„Ersäufen Dich“, berichtigte ihn Klaas, „das Verb heißt ‚ersäufen’.“ Etwas veränderte sich in Tariks Blick. Seine Überheblichkeit war jetzt blanker Wut gewichen, woraufhin er Klaas grob an der Jacke packte und hoch zerrte, bis Klaas Schuhe für einen kurzen Moment die Bodenhaftung verloren.
„Jetzt werden wir Dich erst zusammenschlagen, bevor wir Dich …. absaufen.“
Klaas erkannte seinen Fehler und spürte erneut eine Welle der Angst über sich zusammenbrechen. In seiner Verzweiflung schlug und trat er nun wild um sich und traf Tarik hart am Kehlkopf, woraufhin dieser ihn sofort aus seinem Griff entließ und sich keuchend an den Hals fasste. Während die anderen Jungen überrascht zusahen, wie ihr Anführer zu Boden ging, nutzte Klaas die Gunst des Moments und stürzte davon. Sofort erhob sich hinter ihm ein wildes Geschrei und das Getrampel vieler Schritte folgte ihm in unangenehm kurzer Entfernung. Klaas hastete über Unmengen von Schrott und dorniges Gebüsch. Vorbei an parkenden Autos und halb heruntergerissenen Zäunen. Ohne sich umzublicken, wusste Klaas, dass die Verfolger ihm knapp auf den Fersen waren. Seine Lungen brannten bereits, als er einen großen Platz mit Segelbooten überquerte. Verzweifelt stellte er fest, dass seine Verfolger sich inzwischen in zwei Gruppen aufgeteilt hatten, um ihm den Weg abzuschneiden. Nun blieb ihm nichts anderes übrig, als den langen Holzsteg entlang zu rennen, wohlwissend, dass dieser mitten auf der Schwentine endete. Klaas saß in der Falle. Kurze Zeit später erreichte er das Ende des Stegs und starrte auf das Wasser. Hinter ihm kam das Geschrei der Jungen näher und näher. Ohne weiter zu überlegen, sprang Klaas mit einem großen Satz in die letzte Jolle am Steg und schlug dabei hart gegen die Bordwand. Sekunden später versammelten sich die Verfolger über ihm auf dem Steg und verdunkelten die tief stehende Sonne. Doch anstatt zu ihm herunter zu steigen, schrien sie nur weiter ihre Drohungen und Verwünschungen. Klaas verstand diese Reaktion erst, als sich etwas am Heck der schaukelnden Jolle regte und eine tiefe Stimme den Lärm wie ein scharfes Beil zerschnitt.
„Haltet endlich die Klappe und verschwindet, sonst mach ich Euch Beine!“
Erst jetzt wurde Klaas des alten Mannes gewahr, der dort ruhig neben dem Ruder saß. Trotz seines Alters schien der Mann ungewöhnlich muskelbepackt zu sein. Doch das, was auf die Jugendlichen wohl den meisten Eindruck gemacht hatte, war dieses harte Gesicht. Inmitten der unzähligen tiefen Furchen funkelten zwei brennende blaue Augen und der hart geschnittene Mund kräuselte sich bedrohlich.
„Wir wollen nur den Jungen dort“, sagte Tarik schließlich mit heiserer Stimme.
„Du kleines Arschloch hast hier gar nichts zu wollen“, erklang wieder die Stimme des Alten. Tarik funkelte noch einmal zu Klaas hinüber und gab seinen Gefährten schließlich das Zeichen zum Aufbruch. Klaas starrte noch lange den Jungen wie in Trance nach, noch immer nicht begreifend, wie er dieser aussichtlosen Situation entkommen konnte.
„Und? Geht’s wieder?“, fragte der Alte nun mit viel sanfterer Stimme. Klaas hätte sich jetzt bedanken müssen oder zumindest die Situation erklären müssen. Stattdessen sagte er nur: „Ich habe heute Geburtstag.“
„Na dann mal herzlichen Glückwunsch. Ich bin übrigens Heinz“ Der harte Mund krümmte sich zu einem wohlwollenden Lächeln. Klaas erwiderte schüchtern das Lächeln.
„Hättest Du Lust auf eine kleine Segeltour?“
Klaas hatte größere Angst vor der Rückkehr an Land, als vor dem seltsamen Alten, denn er zweifelte nicht daran, dass die Jungen vor dem Bootshafen auf ihn warten würden. So nickte er schließlich und schaute dem alten Mann fasziniert zu, wie dieser mit ruhiger Hand die Leinen löste und scheinbar mühelos die Segel setzte. Augenblicke später glitt das Boot lautlos aus der Flussmündung auf die in die frühe Abendsonne glänzende Ostsee hinaus. Klaas spürte den kühlen Wind auf seinen Wangen und die rollenden Bewegungen des Bootes. Er lauschte gespannt dem Schlag der Wellen und dem Flattern der Segel. Und plötzlich gab es für ihn keinen Vater mehr, der ihm nicht gratulierte, kein Hochhaus, das er hasste, keine einsamen Nachmittage, kein verlorenes Königreich. Jetzt gab es nur noch das Meer. Er blickte zu Heinz hinüber, der ruhig am Ruder saß. Klaas wollte ihm so vieles sagen, doch kein Wort kam über seine Lippen. Stattdessen nickte der alte Mann, als verstünde er nur zu gut, was Klaas jetzt meinte. Große Schiffe kamen ihnen entgegen und glitten teilnahmslos vorbei. Das Boot aber nahm unerschrocken Kurs auf das offene Meer. Wie gerne hätte er dem alten Mann jetzt zugerufen, er solle einfach weiter segeln, hinaus in die Welt. Weiter als die zarte Linie, an der das Meer mit dem Horizont verschmolz. Denn Klaas hatte an diesem Abend zum ersten Mal in seinem Leben begriffen, was Freiheit bedeutete.
2. Ein Kurier mit leeren Händen
26. Dezember 2004, Bang Tao Beach, Thailand
Der junge, vornehm gekleidete Mann stand wie verabredet nahe der Mündung des Bang Tao-Kanals und wartete geduldig im Schatten der Palmen auf das kleine Motorboot, das sich lautstark der Küste näherte. Der teure dunkle Anzug und die seidene hellblaue Krawatte des Mannes saßen tadellos, waren aber für die Hitze, die bereits schwer über diesem frühen Morgen lag, gänzlich unpassend. Lediglich die etwas schäbig anmutende graue Umhängetasche wollte nicht so recht zu diesem nahezu perfekten Erscheinungsbild passen. Reglos verfolgte der Mann die Ankunft des Motorboots, in dem zwei mürrisch dreinblickende Thais saßen, die ihm beim Näherkommen ein wortloses Zeichen gaben. Der Mann stieg daraufhin die Treppe zum Kanal herab und schwang sich elegant in das Boot. Ohne dass auch nur ein einziges Wort gewechselt wurde, brauste es von neuem in Richtung Meer davon. Vor dem Strand lagen neben einigen friedlich in den seichten Wellen schaukelnden Fischerbooten auch mehrere luxuriöse Yachten, von denen eine besonders imposant war. Sie maß nicht weniger als fünfundzwanzig Meter und besaß drei Decks, auf denen mehrere Personen gespannt die Ankunft des kleinen Motorbootes beobachteten. Der vornehme junge Mann erklomm als erster die Treppe an Bord, wo bereits vier Thais auf ihn warteten. Ein dicker Mann mit Schnurbart löste sich aus der Gruppe und ging einen Schritt auf den Mann zu.
„Mr. Petrenko?“ Der Mann im Anzug nickte lächelnd. Diese Frage war völlig überflüssig gewesen, da er vermutete, dass sie ihn bereits schon seit Tagen beobachteten. Ein anderer Mann trat daraufhin vor und tastete Petrenkos Körper gründlich ab, während dieser kooperativ die Arme zur Seite streckte. Nachdem die lästige Prozedur beendet war, gab der dicke Mann dem Russen ein Zeichen, ihm zum oberen Sonnendeck zu folgen. Dort saß lässig in einem übergroßen Rattansessel gelehnt ein älterer Mann in Tenniskleidung, umringt von zwei großgewachsenen Männern mit Sonnenbrillen und zwei hübschen thailändischen Mädchen im Bikini. Die Mädchen entfernten sich sofort.
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