„Seit zwanzig Jahren bin ich mit Tina zusammen, seit vierzehn Jahren sind wir verheiratet. Simon, unser Sohn, ist fast elf Jahre alt. Alles lief nach Plan, bis Anfang des Jahres dieser andere Mann auftauchte. Natürlich hatte es hin und wieder Unstimmigkeiten gegeben, das ist doch normal in einer Ehe. Sie könne ja verschwinden, wenn es ihr bei mir nicht mehr passt, habe ich öfter zu ihr gesagt, aber so ernst habe ich das doch gar nicht gemeint. Nun scheint sie willens, dies tatsächlich zu tun. Schon bald hat sie es mir gestanden. Es gibt keine Heimlichtuerei zwischen uns beiden. Nein, sie wolle mich trotzdem nicht verlassen, behauptet sie. Aber wie soll das funktionieren und wie stehe ich dann in der Öffentlichkeit da? Ich muss reinen Tisch mit ihr machen. Soll sie doch gehen, wohin der Pfeffer wächst!“
Inzwischen ist ihm der Duft von sich paarendem Rotwild in die Nase gestiegen, den er als erfahrener Jäger genau kennt. Und plötzlich hallt der durchdringende Brunftschrei des Hirsches durch das Unterholz. Joachims Pulsschlag beschleunigt sich. Er nimmt das Fernglas, schaut in die Richtung, von wo der Ruf kommt, kann aber nichts erkennen außer Bäumen und Sträuchern.
„Einen großen Vorteil hat die ganze Sache“, sinnt er vor sich hin. „Meine Frau hat mich betrogen und so kann ich in meinem Umfeld alle Schuld auf sie abwälzen. Ich selbst habe eine weiße Weste. Schließlich bin ich ja ein anständiger Mann.“
Da, plötzlich bricht eine Hirschkuh aus dem Dickicht hervor und gönnt sich eine Pause von der ständigen Begattung durch den hiesigen Platzhirsch. Während der Brunftzeit schart dieser stets ein Rudel weiblicher Stücke um sich, die für den Nachwuchs der stärksten Tiere sorgen. Leise nimmt er das Gewehr in Anschlag und entsichert es. Eigentlich wollte er heute eines der schwächeren männlichen Tiere erlegen, einen lästigen Rivalen des Revierchefs. Doch nun peilt er, fast wie in Trance, dieses „Alttier“ an, wie die Hirschkuh in der Fachsprache genannt wird.
Als sie ihm ihre Breitseite zeigt, geschieht etwas Merkwürdiges. Ein Satz huscht durch seinen Geist: „Deine Augen leuchten in den Farben des Waldes.“ Seine Frau hat ihm diese Worte manchmal ins Ohr geflüstert, wenn sie gemeinsam auf dem Hochsitz saßen und in die Ferne äugten. Das Tier hier vor ihm auf der Wiese ist ja gar kein Tier, sondern ein Mensch. Eine Frau sieht er, mit langem, dunklem Haar. Sie trägt ein helles Sommerkleid, das ihren schlanken Körper betont. Ganz ungeniert pflückt sie Blumen. Nun erkennt er sie – ja, es ist seine Frau Tina. Joachim traut seinen Augen nicht. Wie kommt die denn hierher? Was tut sie abends allein im Wald? War sie nicht viele Jahre lang seine treue Gefährtin, die es niemals gewagt hätte, sich ihm offen zu widersetzen? Und nun ist sie ausgebrochen, außerhalb seiner Kontrolle geraten und verhält sich wie ein freies Tier des Waldes.
Egons Satz kommt ihm in den Sinn: „Knall sie ab, sie hat es nicht besser verdient!“ Egon ist der hiesige Revierförster und versteht Joachims Lage. Er meint es gut mit ihm. Diese Art von freundschaftlichen Ratschlägen geben sich Männer in jenen Kreisen und muntern sich damit gegenseitig auf. Untreue muss bestraft werden. Ein derartiges Vergehen ist unverzeihlich.
Joachim hat noch immer das Gewehr im Anschlag und den rechten Zeigefinger am Abzug. Tina steht frontal vor ihm und der Lauf der Waffe zeigt genau auf ihr Herz. Mit ihren rehbraunen Augen schaut sie in seine Richtung und ihre Blicke scheinen sich zu treffen. Diese Frau war die Liebe seines Lebens, aber wenn er sie nicht mehr besitzen kann, dann soll es auch kein anderer tun. Er drückt ab – ein tödlicher Schuss!
Einer von unzählig vielen Lastwagen rattert am späten Vormittag auf der Bundesstraße am Haus vorbei. Tina sitzt am Küchentisch, schaut aus dem Fenster zu dem Baum auf der gegenüberliegenden Straßenseite und beginnt Selbstgespräche zu führen:
„Den Wechsel der Jahreszeiten habe ich von hier am Blätterkleid dieses Baumes beobachten können, während ich auf mein Kind und dessen Vater wartete. Nun ist alles anders geworden. Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich diesem Mann gegenüber ebenbürtig. Die Tatsache, dass ich mich ihm sexuell entzogen habe, gibt mir eine vorher nie wahrgenommene Kraft. Ich habe keine Lust mehr auf dieses scheinbar wohlgeordnete Leben, in dem ich mich so zu verhalten habe, wie es den anderen Leuten gefällt. War ich ungeeignet für diese Ehe mit meinen niemals endenden Forderungen nach einem Mindestmaß an gemeinsam verbrachter Zeit? Ich erwarte mehr vom Leben, als vom Küchenfenster aus Bäume zu beobachten, wie sie ihre Blätter wechseln, und dabei immer dasselbe duldsame Hausmütterchen zu bleiben.“
Tina steht auf, um Termine für ihre Hausbesuche am kommenden Tag im Kalender an der Wand zu vermerken. Im Geiste sieht sie eine Klientin vor sich: eine ältere Dame, die einen Schlaganfall erlitten und das Sprachvermögen verloren hat. Tina fragt sich, was wohl in dieser Frau vorgehen mag, die geistig klar erscheint, sich aber an keinem Gespräch mehr beteiligen kann. Das Leben verändert sich vollkommen, wenn der Körper nicht mehr seine gewohnten Funktionen erfüllt.
„Krankheiten zwingen uns dazu loszulassen, geschehen zu lassen, was geschehen möchte, ohne sich dagegen zu wehren, und zu tun, was getan werden muss. Was für ein Geschenk ist der menschliche Körper, wenn alles funktioniert! Dagegen sind doch die Probleme, die wir uns selbst erschaffen, nichts weiter als Kleinkram.“
Mit diesen Gedanken beschäftigt geht sie hinunter in die Waschküche, um Wäsche aufzuhängen. Sie ist gerade damit fertig, als sie das Telefon im Büro ihres Mannes klingeln hört. Eilig steigt sie die Treppe hinauf und nimmt das Gespräch für ihn entgegen.
„Ich erfülle hier meine Pflichten und irgendwie ist alles überschaubar“, denkt sie auf dem Weg in die Küche, wo sie den Gemüseauflauf in den vorgeheizten Backofen schiebt. In gut einer Stunde wird er fertig sein. Sie stellt den Kurzzeitwecker, wobei Szenen aus der Vergangenheit in ihr aufsteigen.
Vor ein paar Jahren hatte sie sich erlaubt, eine Grenze zu überschreiten. Während eines längeren Seminars hatte sie eine Affäre mit einem anderen Mann. Zu Hause gestand sie Joachim ihren Seitensprung. Er sollte wissen, dass es da ein Problem gab. Sein knapper Kommentar lautete:
„Schön, dass du es mir gesagt hast, jetzt habe ich einen gut.“
Es wurde nicht weiter über den Vorfall geredet. Aber von diesem Zeitpunkt an machte sich Gleichgültigkeit in der Ehe breit. Ihr Blick fällt auf das Familienfoto, das im Regal steht. Das innere Tonband läuft weiter:
„Was für ein Idyll! Für meine Rolle als Mutter habe ich einiges in Kauf genommen. Ich gebe ja zu, dass ich nicht die ‚Urmutter’ bin, die nur als solche ihre Erfüllung findet. Dafür arbeite ich viel zu gerne in meinem Beruf. Jeder Mensch, dem ich mich zuwende, zeigt mir ein Stück von mir selbst. Ich liebe ihre lächelnden Gesichter, wenn sie nach meiner Behandlung aufstehen. Sie bringen die Sehnsucht mit, berührt zu werden, und ich lasse meine Hände liebevoll zu ihnen sprechen. Manchmal schlafen sie dabei ein. Auf meine Frage, wie sie sich fühlen, antworten mir einige, dass etwas im Körper ins Fließen gekommen ist. Ich sage ihnen, dass dies die zirkulierende Lebensenergie ist, das Ki, wie es die Japaner nennen. Auch meine Ehe ist ein ziemlich turbulenter Strom geworden.“
Bei diesem Vergleich muss Tina schmunzeln. Sie hat sich alle Mühe gegeben, eine gute Ehefrau zu sein, es jedoch nie ganz geschafft. Am Ende blieb immer ein Gefühl von Unzulänglichkeit. Parallel zu Joachims Karriere hat sie ihren eigenen Weg verfolgt und sich damit ein Stück Unabhängigkeit erhalten. Ihre Tätigkeit brachte zwar zusätzliches Geld in die Haushaltskasse, wurde aber von Joachim und seiner Familie mit Argwohn betrachtet. Es ist ein Wunder, wie sie diesen Spagat so lange ausgehalten hat. Körper, Geist und Seele gehören zusammen, um gesund zu bleiben. Nur ihr ausgewogenes Zusammenspiel schafft Wohlbefinden und das Gefühl, im Einklang zu sein mit sich und der Welt. Sie hat diese Balance verloren, vermutlich schon viel länger, als sie es sich eingestehen will. Mit einer Tasse Kaffee setzt sie sich an den Tisch und träumt weiter vor sich hin:
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