"So, jetzt stellt euch vor, ihr seid die Germanen und kommt mit euren voll beladenen Eseln von Westen her und wollt zu eurem Dorf.“
Unser Lehrer war jetzt ganz und gar in der alten Zeit angekommen und wir bereit, ihm zu folgen.
„Die Esel werden natürlich von den Sklaven geführt.
Und beeilt euch, oben warten schon die Händler, wir wollen noch in der Helligkeit unsere Geschäfte abwickeln!", kommandierte er, während wir uns imaginäre Stricke über die Schultern warfen und mühsam an den Eseln zerrten, die sich sträubten, durch das Wasser zu gehen.
Beim Hochklettern auf das trockene Land versetzte mir Feist einen kräftigen Hieb auf den Hintern und brüllte: "Los, du lahmer Esel. Beweg dich! Wir haben noch mehr vor heute!"
Ich keuchte unter meiner Last und machte den Rücken ganz krumm, um das voll beladene Tier aus dem Wasser zu ziehen.
"So, jetzt habt ihr die Furt durchquert und sammelt euch am anderen Ufer, ihr Sklaven der Germanen", rief Herr Günther uns zu.
„Und hoch mit euch den Weg entlang hinauf zum Stapelplatz.“
Ich musste erst mühsam meine Socken über die nassen Füße ziehen und mich in die Stiefel quälen, während die Bauernbuben flugs in ihre Pantinen geschlüpft und losgelaufen waren.
Als ich unsere kleine Sklavengruppe wieder eingeholt hatte, war diese bereits an unserem verfallen Gehöft angelangt.
"Hier hatte in alten Zeiten ein Gerber seinen Hof", hörte ich gerade unseren Lehrer erzählen. „Der brauchte das flache Wasser, um die gegerbten Felle auszuwaschen.“
"Ausrecken nennt man das", platzte es naseweis aus mir heraus, bevor ich darüber nachdenken konnte, wie ungehörig es ist, einen älteren Herrn zu belehren.
"Ja, mein Junge, ich weiß, da kennst dich da besser aus. Ihr macht ja auch heute noch Leder hier in der Abdeckerei. Der Herzog hat jedenfalls damals an die Stelle, an der die Gerberei stand, das Haus für den Scharfrichter hinbauen lassen, damit der auch gleichzeitig seine Abdeckerei betreiben kann.“
Sieh an, das hatte ich noch nicht gewusst. Da konnte ich doch beim Abendessen der Familie gleich mal ein paar interessante Neuigkeiten, die ihnen bestimmt noch nicht bekannt waren, mitteilen.
Wir wanderten weiter auf dem Sandweg, der sich von der Oker aus stetig aufwärts bewegt.
Kurz vor dem Vorwerk kamen wir an der Kate der alten Mette an. Es ist dies eine Frau, mit der schon mein Vater und später auch der Hans immer wieder Schwierigkeiten hatten.
„An dieser Stelle hat der Herzog ein Wachhäuschen und gegenüber einen Ausschank hinbauen lassen“, verkündete Herr Günther soeben. "Stellt euch vor, jetzt treten wir durch das alte Tor des Ortes Lecheln und kommen mit unserem Gepäck an der Wache vorbei. Natürlich müssen die Wachleute nachschauen, was wir alles auf den Eseln haben. Derweil können wir uns im Ausschank niederlassen und uns ein Dünnbier schmecken lassen.“
Die alte Mette mit ihrem zahnlosen Maul stand mit der Forke in der Hand vor ihrer elenden Kate und krächzte uns an, bei ihr gäbe es kein Dünnbier und für den Schinder sein Jung schon gar nicht und der soll mal lieber dafür sorgen, dass es nicht so stinkt auf seinem Hof und dass es ja nicht zum Aushalten ist.
Gott sei Dank waren die Wachleute schnell fertig mit der Begutachtung unseres Gepäckes und Herr Günther führte uns durch das alte Tor, das er mit seinen zwei Händen anzeigte, ins Dorf.
"Seht ihr? Hier ist Lecheln! Hier, genau hier ist das alte Dorf gewesen, die Wohnstatt des Segestes, dem alten Cheruskerführer, der Handelsplatz am Okerufer an der großen Wegekreuzung von Ost nach West und von Nord nach Süd!"
Unser Anführer wurde plötzlich von einer Begeisterung ergriffen, die ihn völlig seine Umgebung vergessen ließ.
Er breitete die Arme aus und zeigte in die jeweilige Richtung, hatte dabei das Gesicht erhoben und schien darauf zu warten, dass Herr Segestes höcht persönlich herabschreitet aus seinem Castrum, um ihn zu begrüßen.
Ich muss sagen, ich war schon sehr beeindruckt damals von der Art, wie unser alter Lehrer uns die Vergangenheit vor Augen führte und ich war mir völlig sicher, dass es so und nicht anders gewesen sein musste.
Wir schauten allerdings ein wenig verlegen drein, denn vom Vorwerk, das genau vor uns lag, schauten zwei Mädchen herüber und kicherten. Wir ließen unsere Eselsstricke, die wir gerade noch über den gekrümmten Schultern getragen hatten, unauffällig fallen und kickten uns die Kieselsteine auf dem staubigen Weg zu.
Herr Günther merkte nichts von den kichernden Mädchen. Auch die zwei Mägde, die sich mit Wäschekörben unter dem Arm dazugesellten, bemerkte er nicht.
Fasziniert lauschten diese, als er mit wedelnden Händen erklärte:
"...und den so entstandenen Hof ließ er gut befestigen, um nicht neidischen Stammesgenossen in die Hände zu fallen.
Befestigen hieß, er ließ seine Fachwerkhäuser mit einem Wall aus geschichteten Steinen umgeben, wie man sie unten in der Mergelkuhle findet.
In den Augen der Römer, die ihre Häuser in Stein bauten und überall, wo sie sich niederließen, als Erstes ein "castrum", also ein befestigtes Lager, anlegten, waren diese germanischen Höfe aus Holz-Lehm-Scheiße-Häusern unglaublich primitiv.
Es soll auch - für einen Römer - unerträglich gestunken haben, weil die Germanen sich nicht in Thermen im heißen Wasser ahlten.
Sie schnitten auch ihre Haare nicht nach Art der Römer, sondern ließen sie wachsen und rieben sie darüber hinaus auch noch mit Butter ein, was einen üblen ranzigen Geruch erzeugt haben soll.
Ihre Kleidung war aus Fell und Wolle hergestellt, die, wenn man sie nicht ordentlich behandelt, auch ganz übel nach Tier stinken kann.
Die Römer schrieben gern an ihre Bekannten und Verwandten nach Rom und berichteten von den "barbari", den Fremden oder Wilden in Germania. Sie machten sich auch lustig über die Behausungen, auf die die germanischen Stammesfürsten so stolz waren.
Spöttisch bezeichneten sie die ummauerten Höfe ebenfalls als castrum, wobei den germanischen Bewohnern dieser Spott völlig entging, weil sie ihn nicht verstanden haben.
Weil "castrum" so gut klang und so herrschaftlich und fürstlich, nannten sie fortan ihre Ansiedlungen selber auch castrum.
Segestes, der so viel auf seine guten Kontakte mit den Römern hielt, nannte seine "Burg" großartig "castrum lechidi", die mit Steinen umgebene Burg.
Seine römischen Handelspartner werden sich in ihren Steinhäusern in den echten "castri" auf die Schenkel geschlagen haben.
Dennoch machten sie gerne Geschäfte mit ihm, weil er interessante Dinge liefern konnte und durch die Lage seines Gehöftes auch ein guter Verbindungsmann in den weiteren Osten war.
Segestes selber züchtete die großen germanischen Bärenhunde, diese riesigen, gelben Viecher, die von den Römern in Kämpfen als abschreckende Ungeheuer eingesetzt wurden.
Vom Gerber, der unten am Fluss siedelte, bezog er Felle und Leder.
Am besten verkaufte sich das schwarze Leder aus Hundehaut, da Hunde ja bekanntlich keine Schweißporen besitzen und daher das Leder aus ihrer Haut wasserdicht ist. Daraus wurden die "caligula", die Soldatenstiefel hergestellt.
Mit ihnen konnte man durch das Wasser waten, ohne nasse Füße zu bekommen.
Das war wichtig für die Soldaten, die in Germanien eingesetzt waren. Sie kamen aus dem Süden, wo es meistens heiß und trocken ist. Hier bei uns ist es - aus römischer Sicht - meistens kalt, feucht, nebelig und sumpfig.
Die römischen Soldaten hassten Germanien wegen des Wetters und wegen der Sümpfe. Aber mit den Hundestiefeln konnten sie wenigstens ihre Füße einigermaßen trocken halten.
Und die germanischen Frauen waren gut im Weben.
Sie bekamen feine Wolle von den römischen Händlern geliefert und fertigten daraus wunderschöne Stoffe, in die farbige Muster eingewebt waren.
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