"Ja, weil es der Rest des Waldes ist, ansonsten richtig."
Wir hörten noch viel über Glasperlen und Römer und Cherusker und Bierausschank und ganz ehrlich, am Ende war sogar ich, der ich mich im Allgemeinen sehr interessiere für die Lebensgewohnheiten unserer Vorfahren, ein wenig ermattet.
Jedenfalls wussten wir jetzt, dass das Dorf Lecheln früher einmal genau da gewesen ist, wo sich heute unser Vorwerk, genannt das Rothe Amt, befindet.
Alles klar. Aber ganz ehrlich, bei all den vielen Erklärungen, die wir gehört und nur zu einem kleinen Teil verstanden hatten: Wo ist denn dieses Dorf abgeblieben? So ein Ort verschwindet doch nicht ganz einfach so, oder?
Ich traute mich natürlich nicht, eine solche Frage zu stellen, aber Herr Günther war ja auch noch nicht ganz fertig mit seinem Vortrag und zu guter Letzt sollten wir es endlich erfahren:
„Als sich die so genannte "Vorstadt" vor der Burg Wolfenbüttel immer weiter ausgebreitet hat und gleichzeitig die Lecheder Bewohner immer wieder erleben mussten, dass ihr Dorf angegriffen wurde, da haben sie gerne das Angebot des Herzogs angenommen, sich innerhalb der neuen Dammfestung anzusiedeln.
Das war ja auch einfach. So ein aus Fachwerk gebautes Haus lässt sich nicht nur schnell auf-, sondern auch ganz schnell wieder abbauen.
Die Lecheder nahmen quasi ihre Häuser wie Lazarus sein Bett, luden sie auf Karren und zogen damit in die Dammfestung, wo sie ihre Häuser wieder aufbauten. Ihre Toten durften sie dort auch bestatten.
Und irgendwann durften sie dort auch am Gottesdienst teilnehmen.
St. Stephanus (das war die Kirche in Lechede) wurde dadurch immer unbedeutender.
Erst brauchte man den einen Pfarrer nicht mehr, dann den zweiten nicht. Die Kirche war durch Kriegseinwirkungen auch immer wieder beschädigt worden, bis der Tag kam, als sie nur noch als Ruine da stand.
Das Dorf verlagerte sich langsam in Richtung Dammfestung und irgendwann gab der Halberstädter Bischof auch die Kirche auf.
Und so verschwand das Dorf Lecheln von der Landkarte. Es blieb nur noch als "Wüstung Lecheln" in Erinnerung und als Name des Waldes "Lechelnholz".
Also kann ein Dorf offensichtlich doch verschwinden, wer hätte es gedacht.
Als wir uns abends beim Essen versammelten, wollte Hans wissen, was wir denn heute gelernt hätten.
"Wir haben gelernt, dass die alten Germanen dort gewohnt haben, wo unser Gehöft an der Oker ist", erklärte mein Bruder Henrich.
"Und dass es dort Wälder und Sumpf und eine Furt gab", ergänzte ich. "Und die Germanen haben große Hunde gehabt, die ganz fürchterlich waren und im Krieg als Ungeheuer eingesetzt wurden!"
"Genau, und es gab eine dralle Frau, die hieß Barbara, und die lebt heute auf dem Vorwerk", fügte ich an.
"Du hast das alles nicht verstanden", quengelte mein Bruder und tunkte sein Brot in die Suppe. "Die Barbara war die Frau von diesem Segestes oder wie der hieß und die ist schon lange tot!"
"Und wer war dieser Segestes?", wollte Hans wissen.
"Das war ein Germane, ein Vorfahre von uns", klärte Henrich ihn auf.
Unsere Mutter bemerkte dazu, dass sie sich in der Familiengeschichte recht gut auskennen würde, aber ein Segestes oder eine Barbara seien ihr nicht bekannt.
Ich konnte hören, wie sie dem Hans leise zuraunte, ob er es für eine gute Idee hielt, dass wir Jungen weiterhin für gutes Geld solchen Unfug lernen würden.
"Ach, schaden tut es ihnen nicht", gab er zurück. Und vielleicht ist ja an der einen oder anderen Geschichte des Alten etwas dran."
Damit war das Thema erledigt und Henrich und ich gingen weiterhin in die Stube des alten Günther und hörten famose Geschichten über unsere Heimat.
Der Richtplatz
Wir übten uns weiterhin im Rechnen, im Schreiben und im Lesen und hörten die vielen Geschichten über unsere Heimat, die sich mir durch das ständige Wiederholen fest eingeprägt haben.
So hörten wir über das Dorf Salzdahlum, welches von uns gut eine Fußstunde entfernt hinter dem Lechelnholz liegt, dass dort schon die ersten Menschen in großen Pfannen Salz gesiedet haben sollen.
Oder über den Elm und die Asse, wo die alten Germanen zur Sommersonnenwende große Feuerräder von den Hügeln gerollt und die Nacht durchgefeiert haben.
An einem besonders heißen Tag im Sommer mussten wir einen Plan anfertigen, wo einst das Dorf Lecheln gelegen hat mit der Furt und dem Stapelplatz und allem, was wir gelernt hatten.
"Wir recapitulieren", nannte Herr Günther das. Und es war besser, auf dem Plan kein Detail zu vergessen, von dem er uns erzählt hatte, denn er erinnerte sich leider doch ganz genau, was er schon zum besten gegeben hatte.
Wir saßen in der Stube, draußen war es warm, die dicken grünen Scheißhausfliegen brummten herum und wir malten mit eingeklemmter Zunge und verkrampften Fingern einen Plan des Dorfes auf unsere Tafeln.
Während es in der Stube warm und wärmer wurde, stand Herr Günther mit auf dem Rücken verschränkten Händen am Fenster und murmelte im Hinausblicken:
"An einem solchen Tag könnte man in der Asse den brennenden Dornbusch entdecken!"
Wir schauten hoch und verstanden nicht, wovon er sprach.
Die Geschichte mit dem brennenden Dornbusch spielte doch sonst in diesem heißen Land Ägypten oder wie das hieß und wurde vom Pfarrer aus der Bibel vorgelesen. Was hatte unsere Asse mit diesem Ägypten zu tun?
"An Tagen wie heute“, murmelte Herr Günther vor sich hin, „an denen die Sonne so heiß brennt, kann es passieren, dass man an den Südhängen der Asse einen brennenden Dornbusch entdecken kann."
Also doch, wir hatten richtig gehört. Erwartungsvoll sahen wir unseren Lehrer an.
"Es handelt sich um ein Rosengewächs, den Diptam", grummelte er weiter, ohne uns dabei anzusehen.
„Der wächst gerne dort, wo es trocken und sehr warm ist, so eben auch auf den heißen trockenen Südhängen der Asse. Seine Blätter enthalten sehr viel so genannte ätherische Öle, die dafür sorgen, dass er sehr stark duftet. Ätherische Öle sind ganz leichte Öle, die in die Luft aufsteigen und verfliegen.
Wenn die Sonne im Sommer besonders heiß scheint, dann kann es passieren, dass der Diptam so viel Öl verströmt, dass die Sonne dieses in Brand setzt und dann sieht der Busch aus, als ob er brennt. So wie es die Israeliten gesehen haben, als sie mit Moses durch die Wüste gezogen sind."
So erzählte Herr Günther diese Geschichte, die wir alle aus der Bibel kannten und uns Buben stand der Mund offen.
Das konnte doch nicht wahr sein, dass der brennende Dornbusch, den der Moses auf seiner Wanderung ins gelobte Land unterwegs in der Wüste entdeckt hatte und aus dem der liebe Gott mit ihm geplaudert hatte, jetzt plötzlich hier bei uns in der Asse wachsen sollte.
"De vertellt'n Schiet", hörte ich ganz leise einen der Jungen flüstern.
Günther hatte es nicht gehört, Gott sei Dank. Oder etwa doch? Manchmal bin ich mir da nicht mehr so sicher.
"Im Sommer, wenn es längere Zeit heiß ist, dann findet man oben in der Asse diese Büsche und sieht die Flammen lodern.
Aber ich verrate euch nicht, wo die Stellen sind. Ihr bringt es fertig und geht da rauf und macht den Diptams den Garaus.“
Damit war für heute das Geschichtenerzählen vorbei und wir stellten unsere Recapitulationswerke fertig.
Mein Bruder Henrich war an diesem Tag nicht mit zum Unterricht gekommen. Er muss es geahnt haben und würde sich einen feixen, wenn er erfährt, wie wir uns in der muffigen Stube quälen mussten.
Henrich fand, er könne gut genug lesen und schreiben und die Geschichten aus vergangenen Zeiten faszinierten ihn bei weitem nicht so sehr wie mich.
Meine Mutter war ganz seiner Meinung und Hans hielt sich heraus. Wenn der Junge lieber das Handwerk lernen wollte, dann sollte er auch. Auch wenn der Vater sich gewünscht hätte, dass er in eine richtige weiterführende Schule gehen sollte, so hatte meine Mutter diese spinnerte Idee ihres verstorbenen Mannes schon längst ad acta gelegt und das zu Henrichs größter Zufriedenheit.
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