Birte Pröttel
Hau ab! Flüchtlingskind!
Eine behütete Kindheit trotz Flucht, Hunger und Vertreibung
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Inhaltsverzeichnis
Titel Birte Pröttel Hau ab! Flüchtlingskind! Eine behütete Kindheit trotz Flucht, Hunger und Vertreibung Dieses ebook wurde erstellt bei
Vorwort Vorwort Birte Pröttel Hau ab! Flüchtlingskind! Die Geschichte einer unbeschwerten Kindheit trotz Flucht, Verlust der Heimat, Verlust von Hab und Gut Für meine Familie und Alle Flüchtlingskinder der Erde Es muss wohl eine der letzten Liebesnächte meiner Eltern gewesen sein, in der ich gezeugt wurde. Ende August 1939 wird mein Vater eingezogen. Er muss als Fernmeldegefreiter in den Krieg, den es eigentlich zu diesem Zeitpunkt noch nicht gibt. Und genau 9 Monate später erblicke ich das Licht der Welt, das nun schon vom Krieg überschattet ist. Vater bekommt Urlaub, um mich zu sehen. Urlaub vom Krieg – was für eine abstruse Idee? Entweder es ist Krieg oder kein Krieg. Und wenn Krieg ist, dann kann man sich doch nicht einfach davon beurlauben lassen. 1942 werden wir ausgebombt und finden Unterschlupf in Hinterpommern bei Verwandten. Dort wird im Januar 1945 unsere kleine Schwester geboren. Mit vier kleinen Kindern macht sich unsere Mutter auf die Flucht. Für mich ein großes Abenteuer, für sie Angst und Schrecken. Wir landen in Dänemark und später im Schwarzwald. In meinen dreizehn Schuljahren bin ich viermal mit meiner Familie umgezogen. Jeder Umzug ist wie das Häuten einer Schlange. Jedes Mal bin ich eine andere, fange von vorne an. Neue Wohnung, neue Schule, neue Lehrer, neue Mitschüler und ich bin immer wieder die Neue. Bei jedem Neubeginn bin ich ein bisschen weniger das „Flüchtlingskind“, dem man die Armut an Kleidung und Sprache anmerkt. Jedes Mal gelingt mir die Mimikry besser und ich gehe in der neuen Umgebung auf. Ich lerne die feinen Unterschiede der Dialekte nachzuahmen, passe mich an. Lauf barfuß nicht, weil ich keine Schuhe habe, sondern, weil die anderen auch ohne Schuh und Strümpfe in Pfützen planschen. Und wenn ich nicht in den Klassenverband aufgenommen werde, dann versuche ich, die anderen zum Lachen zu bringen, den Klassenkasper zu geben. Der Grat zwischen Angeben und ehrlicher Leistung ist schmal. Wenn du ein Habenichts bist, kein Haus hast, kein Auto oder Telefon zu deinen Statussymbolen gehören, dann musst du dich durch anderes hervortun. Entweder besonders freundlich, besonders schlau sein, gute Zeugnisse haben, gut erzogen sein oder lustig, frech, aufmüpfig auf dich aufmerksam machen. Alles lenkt vom Manko des Andersseins ab. Ich sehnte mich nach Aufmerksamkeit, Anerkennung, Liebe und Bewunderung, die mir mein Status Flüchtlingskind nicht geben konnten
Maikäfer flieg... Maikäfer flieg... Sonntagmorgen, das Haus liegt im tiefen Schlaf. Im Spalt der Gardine tanzen die Staubkörnchen auf dem Lichtstrahl. Leise schlüpft Marie zu mir ins Bett, Max folgt und kuschelt sich auf die andere Seite. Im Bett nebenan schnauft der Großvater leise im tiefen Schlaf. Um ihn nicht zu wecken, flüstert Marie: "Oma, erzähl, als du klein warst!" Und dann frage ich erst mal: "Wo waren wir denn das letzte Mal stehen geblieben?" und Max knufft mich ungeduldig und vergisst vor Aufregung zu flüstern:"Immer vergisst du alles! Es war doch, wo die Bomben so geknallt haben ...“ Ja und dann erzähle ich. Ich erzähle den Kindern, wie ich mich schämte ein Flüchtlingskind zu sein, wie peinlich es mir war, arm zu sein, wie weh es mir tat, ausgelacht zu werden, weil ich keine richtige Wolle für den Handarbeitsunterricht hatte. Ich erzähle, wie ich zitternd vor Kälte im Flüchtlingszug saß, aber auch wie schön es an der Ostsee ist. Ich berichte, wie lecker die knallrote dänische Wurst schmeckte und wie stolz ich auf unsere ersten „gekauften“ Sachen war. Und wie dann alles doch ein Glück war, denn ohne Krieg und Vertreibung hätte ich ihren Opa nicht kennengelernt und sie wären jetzt nicht meine geliebten Enkelkinder.
… dein Vater ist im Krieg... … dein Vater ist im Krieg... Am nächsten Sonntagmorgen zeige ich meinen Enkeln das Foto ihres Urgroßvaters. Ich fand es beim Rumkramen. Aufgenommen im August 1939. Mein Vater wurde eingezogen zum Kriegsdienst, obwohl noch kein Krieg war. Als Abschiedsgeschenk hinterlässt er mich als kleine Kaffeebohne in meiner Mutter. Er packt seinen Stahlhelm, das Gewehr, die Langschäfter, seine Brotbüchse, eine Militär-Tasche und klemmt einen Gartenstuhl unter den Arm. Wofür er im Krieg einen Gartenstuhl gebraucht hat, ist mir bis heute ein Rätsel. Vielleicht gab es im Kasernenhof eine große Kastanie, unter der sie einen Biergarten einrichteten und jeder musste was mitbringen? Mein Vater sieht ja ziemlich fröhlich aus, wahrscheinlich ist er froh, wegzukommen. Vater zieht in den Krieg
… Mutter ist im Pommernland …
… Pommernland ist abgebrannt...
… Maikäfer flieg...
Großvaters Schatz
Landleben
Frohe Feste
Der Gänsebraten
Vaters Autobahn
Vater beim Vermessen der Welt in Norwegen
Es gibt Nachwuchs: eine kleine Schwester
Weihnachten 1944
Mit dem Fahrrad ins Wochenbett
Kindliche Aufklärung
Telepathie
Vater kommt nach Plassenburg
Abschied vom Pommernland
A n der Ostsee
Das Ferienhäuschen in Binz
Vater muss Rekruten ausbilden
Im Flüchtlingszug
Das „normale“ Leben in Pasewalk
Wir kommen nach Flensburg
Es geht zu Ende
Tschüss, Flensburg
B Oldemor, unsere Urgroßmutter Petrea, Laurine ei Oldemor in Dänemark
Tante Alwine
Kino und Zirkus
Mutter muss Geld verdienen
Der Smaragdring
Die Taufe
Im deutschen Gemeindehaus
Neujahr 1946
Jesajas Prophezeiung
Kaffeekränzchen
Wir müssen ins Internierungslager 1946
Auch die Großeltern verlieren auch ihre Freiheit
Geschenke von unseren Bewachern
Erbsensuppe und Kartoffelpuffer
Eine neue Bleibe hinter Gittern
Heimlich ausgerissen
Verschönerung
Theater spielen
Zwei Klassen Weihnachtsfeier
B leistifte und Pappe
Briefwechsel
Impfen
„Heim ins Reich“
Im Auffanglager für Heimatvertriebene
Eis, Eis, Eis
Das Schwarzwalddorf
Das Plumpsklo
Kennenlernen
Die Großeltern kommen
Der wilde Peter
Dänische Möbel
Wir leben uns ein
Pilze und Beeren sammeln
Enttäuschungen
Fotoalben
Sonntagmorgens dürfen wir zu Vater ins Bett. Mutter rollt sich zur Seite und will in Ruhe gelassen werden. Vater kann wunderbare Geschichten erzählen. Von Herkules, dem Starken, von Helena der Schönen, von Odysseus aber auch aus den nordischen Heldensagen berichtet er. Dass die Erzählungen nicht immer dem Originalen entsprechen, merken wir nicht. Am meisten beeindruckt mich die Geschichte von Medusa mit den Schlangenhaaren, die so hässlich war, dass jeder der sie sah, zu Stein erstarrte. Und ich stellte mir vor, wie ich mit dem abgeschlagenen Medusenhaupt, die Dorfbewohner erschrecken könnte und dass das ganze Dorf sich in einen Steinhaufen verwandelte. Ob die Hügel des Schwarzwaldes auch erstarrte Menschen waren?Anne ist noch zu klein, um die Geschichten zu verstehen, wenn es ihr langweilig wird, quengelt sie oder tobt auf Mutter rum, die dann fluchtartig das Ehebett verlässt. Auch Anne hat eine Lieblingsgeschichte, in der Vater vom Marsmenschen erzählt, der einen Reißverschluss im Bauch hatte und wenn ihm was nicht schmeckte, einfach aufmachte, den Teller in den Bauch leerte und fertig. Ein Traum für die Kleine, denn es gab fast nichts, was ihr schmeckte und sie verbrachte Stunden – wie ich damals vor der Erbsensuppe – vor ihrem Teller mit dem kalt gewordenen Mittagessen.
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